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Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Titel: Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hilary Mantel
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neue Dienstmagd, ein Mädchen noch, und die wusste es wohl nicht besser.
    Nachdem Lucile den Brief gelesen hatte, wendete sie ihn in der Hand und strich die Seiten glatt. Ganz systematisch ging sie ihn noch einmal durch. Dann faltete sie ihn zusammen und schob ihn in einen Band mit Schäferdichtung. Doch sofort hatte sie das Gefühl, ihm damit nicht gerecht zu werden, also steckte sie ihn stattdessen in Montesquieus Persische Briefe . Er war so eigenartig, dass er gut aus Persien hätte stammen können.
    Aber kaum hatte sie das Buch wieder ins Regal gestellt, wollte sie den Brief wieder in der Hand halten. Sie wollte das Papier spüren, die geschwungene schwarze Handschrift wieder sehen, den Blick über die Zeilen schweifen lassen – Camille schreibt schön , dachte sie, so schön . Bei manchen Wendungen stockte ihr der Atem. Sätze flogen ihr vom Blatt entgegen. Ganze Abschnitte schienen das Licht einzufangen und wieder abzustrahlen: Worte wie Perlen, die auf eine Schnur aufgezogen waren, Worte, blitzend wie Diamanten.
    Großer Gott, dachte sie. Voller Scham rief sie sich ihre Tagebücher ins Gedächtnis. Und ich habe geglaubt, ich schreibe Prosa …
    Dabei versuchte sie die ganze Zeit, nicht an den Inhalt des Briefes zu denken. Sie konnte nicht recht glauben, dass sich das alles wirklich auf sie beziehen sollte, obwohl es ihr, logisch betrachtet, zweifellos zustand.
    Doch: Es war sie – ihre Seele, ihr Gesicht, ihr Körper –, die diese Prosa ins Leben gerufen hatte. Man konnte die eigene Seele nicht untersuchen, um herauszufinden, was daran so besonders war, selbst bei Gesicht und Körper war es nicht so einfach. Die Spiegel in der Wohnung hingen alle zu hoch; vermutlich hatte ihr Vater sie so aufhängen lassen. Sie konnte nur ihren Kopf darin sehen, was einen eigenartigen, körperlosen Eindruck entstehen ließ. Um wenigstens noch ein bisschen Hals zu sehen, musste sie sich auf die Zehenspitzen stellen. Sie war ein hübsches kleines Mädchen gewesen, das wusste sie. Sie und Adèle waren beide die Sorte hübsche kleine Mädchen gewesen, in die Väter vernarrt sind. Letztes Jahr war dann diese Veränderung eingetreten.
    Sie wusste, dass Schönheit für viele Frauen eine Frage der Anstrengung war, eine Übung in Geduld, Geschick und Findigkeit. Sie erforderte eine eigentümliche Art von Ehrlichkeit, verbot jede Eitelkeit. War sie auch nicht direkt eine Tugend, so konnte sie doch als Verdienst bezeichnet werden.
    Doch sie konnte dieses Verdienst nicht für sich in Anspruch nehmen.
    Manchmal irritierte sie diese neue Errungenschaft – so wie andere Menschen ihre eigene Faulheit irritiert oder die Tatsache, dass sie Nägel kauen. Sie hätte gern an ihrem Aussehen gearbeitet, aber es war nun einmal so: Die Notwendigkeit bestand nicht. Sie hatte das Gefühl, von anderen Menschen weggetrieben zu werden – in einen Bereich, in dem sie nach etwas beurteilt wurde, für das sie nichts konnte. Eine Freundin ihrer Mutter hatte einmal gesagt (sie hatte gelauscht): »Mädchen, die schon in diesem Alter so aussehen, sind mit fünfundzwanzig dahin.« Tatsächlich kann sie sich fünfundzwanzig schlicht nicht vorstellen. Sie ist jetzt sechzehn, da ist Schönheit so endgültig wie ein Muttermal.
    Da ihre Haut von einer zarten Blässe war, wie die einer Frau, die im Elfenbeinturm lebt, hatte Annette sie überredet, ihr dunkles Haar zu pudern und es mit Bändern und Blumen aufzustecken, um die makellose Form ihres Gesichts zur Geltung zu bringen. Es war nur gut, dass man nicht ihre dunklen Augen herausnehmen und stattdessen porzellanblaue einsetzen konnte. Sonst hätte Annette es womöglich getan – sie wollte von ihrem eigenen Puppengesicht angesehen werden. Mehr als einmal hatte Lucile sich im Geiste selbst als Porzellanpuppe gesehen, die, aus der Kindheit ihrer Mutter übrig geblieben, in Seide gehüllt hoch oben auf einem Regal lag, eine Puppe, die zu kostbar und zerbrechlich war, um den wilden, raubeinigen Kindern von heute in die Hand gegeben zu werden.
    Das Leben war größtenteils dröge. Sie konnte sich noch an eine Zeit erinnern, als ein Picknick, eine Landpartie, eine Bootsfahrt auf dem Fluss an einem heißen Nachmittag ihre größte Freude gewesen waren. Ein Tag ohne Lernen, an dem die üblichen Abläufe durchbrochen wurden und man vergessen konnte, welcher Wochentag es war. Sie hatte solchen Tagen mit einer Aufregung entgegengesehen, die an Furcht grenzte, war früh aufgestanden, um den Himmel zu betrachten und das

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