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Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Titel: Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hilary Mantel
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gewundert, wenn es vor seinen Augen verdorben wäre, betrachtete die grüne Schale des Apfels, als wäre sie bereits am Faulen.
    Wenn man starb, konnte das wie bei seiner Mutter in einer Weise passieren, über die nicht gesprochen wurde; doch er erinnerte sich an ihr Gesicht, als sie, an die Kissen gelehnt, darauf wartete, gemetzelt zu werden, und er erinnerte sich daran, dass jemand aus der Dienerschaft hinterher gesagt hatte, man werde die Bettwäsche verbrennen. Man konnte sterben wie Henriette: Allein, während das eigene Blut auf das weiße Laken strömte, außerstande, sich zu rühren, außerstande zu rufen, paralysiert und zu Tode erschrocken – während im Stockwerk darunter Leute plauderten und Kuchen herumreichten. Man konnte sterben wie Großvater Carraut – gelähmt, altersschwach, abstoßend, in ständiger Sorge wegen seines Testaments, sein Gedächtnis geschwunden, so hatte er mit seinem stellvertretenden Brauereidirektor über das Alter des Holzes für die Fässer geplappert, sich zwischendurch unterbrochen, um seine Familie wegen Fehltritten, die dreißig Jahre zurücklagen, zu schelten und seine hübsche verstorbene Tochter wegen ihres schändlichen dicken Bauchs zu verfluchen. Es war nicht Großvaters Schuld gewesen. Es war das Alter. Doch er konnte sich das Alter nicht vorstellen. Konnte sich nicht vorstellen, selbst jemals dorthin zu gelangen.
    Und wenn man gehängt wurde? Daran wollte er gar nicht denken. Der Tod eines normalen Verbrechers konnte bis zu einer halben Stunde dauern.
    Er versuchte es mit Beten, griff nach dem Rosenkranz, um seine Gedanken zu beruhigen. Doch die Gebetsschnur erinnerte ihn an einen Strick, und er ließ sie zu Boden gleiten. Er zählte mit: Pater noster, qui es in caelis; Ave Maria, Ave Maria und jener fromme Zusatz: Gloria Patri et Filio et Spiritui Sancto, Amen . Die heiligen Silben liefen ineinander, wurden zu Nonsenswörtern. Stülpten sich um, changierten zwischen Sinn und Unsinn. Und überhaupt, was ist schon Sinn? Gott wird ihm nicht sagen, was er tun soll. Gott wird ihm nicht helfen. An diese Sorte Gott glaubt er nicht. Er ist kein Atheist, sagt er sich. Nur ein Erwachsener.
    Morgendämmerung: Er hört das Rumpeln der Wagenräder unter seinem Fenster, das lederne Knarren des Geschirrs, das Schnauben und Wiehern des Pferdes, das einen Karren mit Gemüse für diejenigen zieht, die zur Abendessenszeit noch am Leben sein werden. Die Priester polieren ihre Gefäße für die Morgenmesse, und in der Wohnung unter ihnen steht man aus dem Bett auf, wäscht sich, erhitzt Wasser, entzündet die Feuer. Am Louis-le-Grand hätte er um diese Zeit bereits in seiner ersten Unterrichtsstunde gesessen. Wo waren sie, die Kinder von damals? Wo war Louis Suleau? Ging seinen sarkastischen Weg. Wo war Fréron? Schlug sich eine Bresche durch die Gesellschaft. Und Camille schlief an diesem Morgen bestimmt noch, ans dunkle Herz der Stadt geschmiegt, schlief, ohne sich seiner in Muskeln und Knochen gebetteten, vermutlich verdammten Seele bewusst zu sein.
    Brount winselte vor der Tür. Charlotte kam und beorderte ihn barsch dort weg. Die Pfoten des unwilligen Hundes tapsten die Treppe hinunter.
    Er schloss auf, um den Barbier einzulassen. Der Mann schaute seinem freundlichen Stammkunden ins Gesicht – und war so klug, sich sein morgendliches Geplauder zu verkneifen. Die Uhr tickte ohne Bedenken der Zehn entgegen.
    Im letzten Moment ging ihm der Gedanke durch den Kopf, dass er nicht hingehen musste, er konnte einfach sitzen bleiben und sagen: Ich gehe heute nicht ins Gericht. Man würde zehn Minuten auf ihn warten, einen Schreiber vor dem Gericht postieren, der nach ihm Ausschau halten sollte, ihm schließlich eine Nachricht senden; und er würde antworten, dass er heute nicht ins Gericht kommen würde. Sie konnten ihn ja wohl kaum dort hinschleifen, oder? Ihm das Urteil aus der Kehle pressen?
    Aber es ging um Recht und Gesetz, dachte er müde, und wenn er nicht imstande war, ihnen Geltung zu verschaffen, hätte er von seinem Amt zurücktreten sollen, hätte am Tag zuvor zurücktreten sollen.
    Drei Uhr nachmittags: Es ist vorbei. Er muss sich übergeben. Gleich hier am Straßenrand. Er krümmt sich. Schweiß rinnt ihm den Rücken hinab. Er geht in die Knie, würgt. Sein Blick verschleiert sich, seine Kehle schmerzt. Doch sein Magen ist leer, er hat seit vierundzwanzig Stunden nichts mehr gegessen. Er streckt die Hand aus, stützt sich ab, steht auf. Er wünschte, jemand nähme ihn bei

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