Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
der Hand, damit dieses Zittern aufhört; aber wenn man krank ist, kommt einem niemand zu Hilfe.
Wenn ihn jemand auf seinem Weg beobachtete, sähe er ihn straucheln, vorwärtstaumeln. Er versucht bewusst, aufrecht zu gehen, ganz systematisch einen Fuß vor den anderen zu setzen, doch seine Beine erscheinen ihm zu fern. Sein ganzer jämmerlicher Körper erteilt ihm wieder einmal eine Lektion: Bleib dir selbst treu.
Dies ist Maximilien de Robespierre, Rechtsanwalt: ledig, sympathisch, ein junger Mann, dessen ganzes Leben noch vor ihm liegt. Heute hat er, dem Gesetz entsprechend, aber gegen seine tiefste Überzeugung, einen Verbrecher zum Tode verurteilt. Und jetzt wird er dafür bezahlen.
Er übersteht es, kommt durch. Selbst hier in Arras war es möglich, Verbündete zu finden, wenn auch keine Freunde. Joseph Fouché unterrichtete am oratorianischen Kolleg. Er hatte erwogen, selbst Priester zu werden, dann aber doch Abstand davon genommen. Er unterrichtete Physik und war an allem Neuen interessiert. Fouché kam recht häufig zum Abendessen, Charlotte lud ihn ein. Er schien um ihre Hand angehalten zu haben – oder zumindest waren sie zu irgendeinem Einverständnis gekommen. Max fand es erstaunlich, dass Fouché mit seinen schwächlichen, spillerigen Gliedmaßen und fast wimpernlosen Augen überhaupt eine Frau interessieren konnte. Aber wer konnte das schon beurteilen? Eigentlich mochte er Fouché überhaupt nicht, aber Charlotte musste ihr eigenes Leben leben.
Dann gab es Lazare Carnot, Hauptmann bei den Pionieren der Garnison; ein Mann, der älter war als er, reserviert und verbittert, weil er als Bürgerlicher in der Armee Seiner Majestät nur sehr beschränkte Möglichkeiten hatte. Carnot begleitete ihn zu den Treffen der Akademie und wälzte Formeln, während alle anderen über das Sonett diskutierten. Manchmal kamen sie in den Genuss einer Tirade über den beklagenswerten Zustand der Armee. Dann tauschten sie amüsierte Blicke aus.
Nur Maximilien hörte aufmerksam zu – er kannte sich in militärischen Dingen kaum aus und erstarrte daher fast vor Ehrfurcht.
Als Mlle de Kéralio in die Académie gewählt wurde – das erste weibliche Mitglied –, hielt er ihr zu Ehren eine Rede über das besondere Wesen der Frau, ihre Rolle in der Literatur und den Künsten. Danach hatte sie gesagt: »Nennen Sie mich doch Louise.« Sie schrieb Romane – mehrere Tausend Wörter pro Woche. Er beneidete sie um ihren flüssigen Stil. »Hören Sie sich das mal an«, sagte sie, »und dann sagen Sie mir, was Sie davon halten.«
Das verkniff er sich – Schriftsteller sind empfindlich. Louise war hübsch, und sie bekam die Tinte nie ganz von ihren kleinen Fingern herunter. »Ich gehe nach Paris«, erklärte sie. »Man kann in diesem kulturellen Notstandsgebiet hier – Anwesende ausgenommen – nicht ewig vor sich hin stagnieren.« Sie klopfte mit einem zusammengerollten Manuskript gegen eine Stuhllehne. »O wundersamer, ehrwürdiger Maximilien de Robespierre, wollen Sie nicht nach Paris mitkommen? Nein? Na, dann lassen Sie uns wenigstens heute Nachmittag wegfahren und ein Picknick machen. Wir könnten den Tratschmäulern ein bisschen Futter geben, was meinen Sie?«
Louise war eine echte Adlige. »Da sind alle Spekulationen müßig«, sagten die Tanten. »Armer Maximilien.«
»Adlig oder nicht«, sagte Charlotte, »diese Frau ist ein Flittchen. Sie wollte, dass mein Bruder einfach so mit ihr nach Paris geht, das muss man sich mal vorstellen.« Fürwahr, das musste man sich mal vorstellen. Louise packte ihre Sachen und brauste in die Zukunft davon. Er hatte das vage Gefühl, eine Abzweigung verpasst zu haben; eine dieser Weggabelungen, an die man sich später erinnert, wenn man sich hoffnungslos verirrt hat.
Aber es gab ja noch Tante Eulalies Stieftochter Anaïs. Seine beiden Tanten zogen sie allen anderen Kandidatinnen vor. Sie habe gute Manieren, meinten sie.
Es dauerte nicht lange, bis eines Tages die Mutter eines armen Seilmachers bei ihm vor der Tür stand und ihm erzählte, ihr Sohn sitze im Gefängnis, weil ihn die Benediktiner von Anchin des Diebstahls bezichtigt hätten. Es sei eine falsche und böswillige Anschuldigung; der Cellerar der Abtei, Dom Brognard, sei als Langfinger berüchtigt, außerdem habe er versucht, die Schwester des Seilmachers herumzukriegen – und sie wäre beileibe nicht die Erste gewesen …
Ja, sagte er. Beruhigen Sie sich. Nehmen Sie Platz. Und jetzt noch mal ganz von vorne.
Diese Sorte
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