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Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Titel: Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hilary Mantel
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irgendwann. Zudem redeten sie jetzt dauernd von François – dein Vater war dies, dein Vater war das, in deinem Alter hat dein Vater immer dies und jenes getan. Herrgott noch mal, dachte er, ich bin nicht mein Vater. Dann kam Augustin vom Louis-le-Grand zurück, plötzlich und unübersehbar erwachsen geworden. Er hatte ein loses Mundwerk, verschwendete seine Zeit und war ein eifriger, wenn auch nicht sehr erfolgreicher Schürzenjäger. Die Tanten sagten – nicht ohne Bewunderung –: »Wie der Vater, so der Sohn.«
    Dann kam Charlotte von der Klosterschule zurück. Sie zogen zusammen in ein Haus in der Rue des Rapporteurs. Maximilien verdiente das Geld, Augustin lungerte herum, Charlotte machte den Haushalt und bedachte sie beide mit immer neuen scharfen Bemerkungen.
    In seinen Ferien vom Collège Louis-le-Grand hatte Maximilien es nie versäumt, bestimmte Pflichtbesuche zu absolvieren. Ein Besuch beim Bischof, ein Besuch beim Abt, ein Besuch bei den Lehrern seiner ersten Schule, um zu berichten, wie er vorankam. Nicht dass er ihrer aller Gesellschaft so ungemein genossen hätte; er wusste einfach, dass er später einmal ihr Wohlwollen würde gebrauchen können. Und als er dann nach Hause zurückkehrte, zahlte sich diese Gewissenhaftigkeit aus. Die Familie hatte eine Meinung über ihn, aber die Stadt hatte eine andere. Er wurde in die Anwaltschaft von Arras aufgenommen und mit offenen Armen empfangen. Denn natürlich war er nicht sein Vater, und die Erde hatte sich weitergedreht; er war nüchtern, äußert korrekt; er machte der Stadt Ehre, machte dem Abt Ehre, machte den angesehenen Verwandten Ehre, die ihn aufgezogen hatten.
    Wenn doch dieser unsägliche du Rut nur aufhören würde, sich in Erinnerungen zu ergehen … Wenn man sein eigenes Denken doch nur so steuern könnte, dass einem von bestimmten Unterhaltungen, bestimmten Anspielungen, ja selbst bestimmten Gedanken nicht übel würde. Als hätte er sich eines Verbrechens schuldig gemacht. Schließlich war er kein Verbrecher, sondern Richter.
    Im ersten Jahr hatte er fünfzehn Fälle, was als überdurchschnittlich galt. Für gewöhnlich hatte er eine gute Woche vor der Verhandlung alles vorbereitet, und am Abend vor dem ersten Verhandlungstag arbeitete er noch einmal bis Mitternacht, wenn nötig auch bis zur Morgendämmerung. Er ignorierte alles, was er bis dahin getan hatte, legte alle anderen Unterlagen beiseite, studierte erneut sorgfältig die Fakten und rollte den Fall noch einmal ganz von vorn auf. Sein Gehirn glich der Geldkassette eines Geizkragens – was einmal hineingelangt war, blieb drinnen. Er wusste, dass er seine Kollegen damit einschüchterte, aber was konnte er tun? Ihnen musste doch klar sein, dass er entschlossen war, ein erstklassiger Anwalt zu werden?
    Er begann seinen Klienten zu raten, sich, wann immer es möglich war, außergerichtlich zu einigen. Das brachte zwar weder ihm noch seinem Gegner viel ein, doch die Klienten sparten einiges an Zeit und Geld. »Andere Leute haben solche Skrupel nicht«, sagte Augustin.
    Nachdem er vier Monate als Anwalt praktiziert hatte, wurde ihm das Amt eines Richters am bischöflichen Gerichtshof verliehen. Nach so kurzer Zeit war das eine Ehre, doch er überlegte sofort, ob es nicht ein zweischneidiges Schwert war. In den ersten paar Wochen hatte er einiges gesehen, was falsch lief, und natürlich auch darauf hingewiesen, und M. Liborel, der ihn bei seiner Zulassung als Anwalt protegiert hatte, war offenbar der Ansicht, er habe eine Reihe taktloser Bemerkungen gemacht. Liborel hatte gesagt (sie alle hatten es gesagt): »Auch wir sehen natürlich, dass gewisse Reformen nötig sind, aber hier in Artois überstürzen wir die Dinge nicht gern.« So begannen die Missverständnisse. Er hatte nun wirklich niemanden verstimmen wollen, aber offenbar war ihm genau das gelungen. Hatte man ihm das Richteramt übertragen, weil man der Ansicht war, er habe es verdient, oder wollte man ihn damit beschwichtigen, bestechen, zur Mäßigung seines Urteils bewegen, war es eine Belohnung, eine Gunst oder gar eine Entschädigung … eine Entschädigung für eine noch nicht zugefügte Kränkung?
    Der Tag nahte: der Tag, an dem er sein Urteil sprechen sollte. Er blieb die ganze Nacht auf, bei offenen Fensterläden, sah zu, wie der Nachthimmel sich wandelte. Jemand hatte ihm ein Tablett mit Essen zwischen seine Unterlagen gestellt. Er erhob sich, schloss die Tür ab. Das Essen rührte er nicht an. Er hätte sich nicht

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