Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
Duellen im Kopf greift kein Gesetz. Politische Ansichten, erklärt er seinem Bruder Augustin, kann man nicht abspalten von den Menschen, die sie vertreten; wer das tut, dem ist es nicht ernst mit der Politik.
Eigentlich müssten ihm diese Gedanken ins Gesicht geschrieben stehen – dennoch wollen sie ihn alle bei ihren Einladungen, ihren Landpartien oder Theaterabenden dabeihaben. Sie weigern sich einzusehen, dass er nicht mehr genug Verbindlichkeit für einen reibungslosen gesellschaftlichen Umgang aufbringt. Und so presst ihm der Druck ihrer Erwartungen immer wieder aufs neue das nötige Quäntchen Takt oder Entgegenkommen ab; es ist so viel leichter, sich zu benehmen, der freundliche Max zu sein, den sie alle kennen.
Tante Henriette, Tante Eulalie umflattern ihn mit ihrer eigenen erdrückenden Art von Takt; sein Bestes, nur das wollen sie. Tante Eulalies Stieftochter Anaïs: so hübsch, und sie mag dich so, was spricht also dagegen? Und warum es noch aufschieben? Weil es sein kann, sagt er verzweifelt, dass nächstes Jahr die Stände einberufen werden, und wer weiß, wer weiß, vielleicht gehe ich weg.
An Weihnachten haben sich die Charpentiers schon bestens in ihrem neuen Haus in Fontenay-sous-Bois eingelebt. Sie vermissen das Café, aber nicht den Schlamm der Pariser Straßen, den Lärm, den ruppigen Ton in den Läden. In der guten Landluft, sagen sie, fühlen sie sich gleich zehn Jahre jünger. Gabrielle und Georges-Jacques kommen sonntags zu Besuch; man sieht ihnen ihr Glück an. Das Kind wird ausreichend Wickeltücher für sieben Säuglinge haben und mehr umhätschelt werden als ein Dauphin. Georges-Jacques wirkt abgekämpft, blass von dem langen Winter. Ihm täte ein Monat daheim in Arcis gut, aber er kann sich nicht freinehmen. Er vertritt jetzt sämtliche Rechtsfälle der Steuerbehörde, trotzdem fehlt ihm noch eine Einkommensquelle, sagt er. Er würde gern ein Stück Land kaufen, aber er hat nicht das Geld dazu. Er sagt, zerreißen kann er sich auch nicht, aber er sorgt sich ganz sicher grundlos. Wir sind alle sehr stolz auf Georges.
Im Finanzministerium gibt sich Claude Duplessis so optimistisch, wie ihm das in Anbetracht der Umstände möglich ist. Letztes Jahr hatte Frankreich drei verschiedene Generalkontrolleure der Finanzen in nur fünf Monaten, und jedem mussten sie wieder die gleichen dummen Fragen beantworten, die gleichen unnützen Dossiers zusammenstellen. Wenn er morgens aufwacht, muss er immer erst überlegen, für wen er derzeit arbeitet. Bald wird zweifellos M. Necker ins Amt zurückkehren und uns alle mit neuen Binsenweisheiten über das Vertrauen der Öffentlichkeit beglücken. Wenn die Bevölkerung in Necker partout ihren Messias sehen will – was zählen dann wir, bloße Buchhalter, bloße Beamten? Niemand im Ministerium glaubt, dass die Situation zu retten ist.
Claude vertraut einem Kollegen an, dass seine bildhübsche Tochter einen kleinen Provinzanwalt heiraten will, der stottert, sich kaum je bei Gericht blicken lässt und allem Vernehmen nach einen unsittlichen Lebenswandel führt. Er fragt sich, warum sein Kollege schmunzelt.
Das Defizit beträgt einhundertsechzig Millionen Livres.
Camille Desmoulins wohnt in der Rue Sainte-Anne, bei einem Mädchen, dessen Mutter Porträtmalerin ist. »Fahr deine Familie besuchen«, mahnt sie ihn. »Wenigstens über Neujahr.« Sie taxiert ihn; sie spielt mit dem Gedanken, in die Fußstapfen ihrer Mutter zu treten. Camille lässt sich nicht leicht aufs Papier bannen, viel weniger leicht als die Männer, die dem Zeitgeschmack entsprechen: blühende, fleischige Männer mit steifem Rückgrat und frisch barbierten Köpfen. Camille bewegt sich selbst für die flüchtigste Skizze zu rasch; sie weiß, dass er im Aufbruch ist, fort aus ihrem Leben, und sie würde ihm gern etwas Gutes tun, bevor er geht.
Und so rumpelte nun also die Diligence , die ihren Namen wahrlich nicht verdiente, über zerfurchte, vom Januarregen überschwemmte Straßen nach Guise. Während seine Heimatstadt immer näher kam, dachte Camille an seine Schwester Henriette, an die lange Zeit ihres Sterbens. Ganze Tage, ja Wochen hatten sie Henriette während dieser Zeit nicht gesehen, nur das fahle Gesicht seiner Mutter und den Arzt, wenn er kam und ging. Ihn hatte man ins Internat nach Cateau-Cambrésis geschickt, und manchmal war er nachts aufgewacht und hatte gedacht, warum hustet sie nicht? Bei seiner Rückkehr nach Hause wurde er zu ihr gelassen und durfte fünf Minuten an
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