Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
ihrem Bett sitzen. Die Haut unter ihren Augen war durchsichtig und schimmerte bläulich; die Kissen bogen ihr die knochigen Schultern nach vorn. Sie war in dem Jahr gestorben, in dem er nach Paris auf die Schule kommen sollte, an einem Tag, an dem der Regen stetig herabrauschte und in braunen Bächen durch die Straßen der Stadt floss.
Sein Vater hatte dem Priester und dem Arzt ein Glas Weinbrand in die Hand gedrückt – als wären sie den Tod nicht gewohnt und müssten dafür gestärkt werden. Er selbst, Camille, saß unauffällig in einer Ecke, und steif, äußerst steif wandte sich das Gespräch der Männer ihm zu: Und, Camille, freust du dich auf Louis-le-Grand? Ich habe es vor, sagte er. Werden dir denn deine Eltern nicht fehlen? Sie dürfen nicht vergessen, sagte er, dass sie mich schon vor drei Jahren aufs Internat geschickt haben, als ich sieben war, deshalb werden sie mir nicht im Mindesten fehlen und ich ihnen auch nicht. Er ist ein bisschen durcheinander, sagte der Priester eilig; weißt du, Camille, deine kleine Schwester ist im Himmel. Nein, Pater, sagte er, wir müssen davon ausgehen, dass Henriette im Fegefeuer ist und Qualen durchleidet. Das ist der Trost, den unsere Religion für unseren Verlust vorsieht.
Auch auf ihn würde ein Glas Weinbrand warten, wenn er nun heimkam, und sein Vater würde ihn wie jedes Jahr fragen, wie die Fahrt gewesen sei. Aber er kannte die Fahrt in- und auswendig. Die Pferde konnten stürzen, man konnte unterwegs vergiftet oder von einem Mitreisenden zu Tode gelangweilt werden, das war die Summe der Möglichkeiten. Einmal hatte er geantwortet: Ich habe nichts gesehen, mit niemandem gesprochen und nur den ganzen Weg böse Gedanken gedacht. Den ganzen Weg? Und das waren die Tage vor der Diligence . Was für ein Durchhaltevermögen er mit sechzehn gehabt haben musste!
Vor seiner Abreise aus Paris hatte er die letzten Briefe seines Vaters wiedergelesen. Sie waren scharf, unsouverän, verletzend. Zwischen den Zeilen klang das Unaussprechliche durch: Die Godards wollten sein Verlöbnis mit seiner Cousine Rose-Fleur aufheben! Es war geschlossen worden, als sie noch in der Wiege gelegen hatte; wie hätten sie ahnen sollen, dass die Dinge sich so entwickeln würden?
Er kam an einem Freitagabend zu Hause an. Am nächsten Tag wollten Aufwartungen gemacht, Besuche abgestattet sein, denen er sich nicht entziehen konnte. Rose-Fleur tat so, als wäre sie zu schüchtern, um mit ihm zu sprechen, aber die Verstellung machte sie rastlos und unruhig. Sie hatte einen huschenden Blick und das schwere dunkle Haar der Godards; ab und zu glitten ihre Augen über ihn hinweg, und dann fühlte er sich wie in schwarzen Sirup getaucht.
Am Sonntag ging er mit der Familie zur Messe. In den engen, graupeldurchwehten Gassen drehten die Leute sich nach ihm um. In der Kirche gafften sie, als käme er von einem sehr viel wärmeren Ort als Paris.
»Sie sagen, du wärst Atheist«, flüsterte seine Mutter.
»So, sagen sie das?«
Clément sagte: »Vielleicht machst du es wie dieser diabolische Angeviner und gehst beim Segen in einer Rauchwolke auf.«
»Das wäre zumindest eine Abwechslung«, meinte Anne-Clothilde. »Wir hatten es recht öde in letzter Zeit.«
Camille musterte seine Umgebung nicht, aber er war sich bewusst, dass seine Umgebung ihn musterte. Da waren M. Saulce und seine Frau; da war der Arzt, mit Bäuchlein und Perücke, der damals Henriette zu ihrem Tod geleitet hatte.
»Da drüben sitzt deine alte Geliebte«, sagte Clément. »Auch wenn wir das eigentlich nicht wissen dürfen.«
Sophie war jetzt eine Matrone mit Doppelkinn. Sie schaute durch ihn hindurch, als wären seine Knochen aus Glas. Fast hätte er es selbst geglaubt: Selbst Stein schien in dem weihrauchgeschwängerten Dämmer zu bröckeln, sich aufzulösen. Sechs Flämmchen am Altar züngelten und flackerten, ihre Schatten kreuzten Fleisch und Stein miteinander, Wein und Brot. Die wenigen Kommunionsteilnehmer verschmolzen mit der Dunkelheit. Es war Epiphanias; als sie ins Freie traten, meißelte das blaue Tageslicht die Schädel der Stadtbewohner wieder in Form, härtete die Knochen aus.
Er ging hinauf in das Arbeitszimmer seines Vaters und blätterte sich durch die abgelegte Korrespondenz, bis er den Brief fand, den er suchte, das Schreiben seines Onkels Godard. Während er es noch las, kam sein Vater herein. »Was tust du da?« Er machte keine Anstalten, den Brief zu verstecken. »Du erlaubst dir sehr viel«, sagte
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