Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
Bestätigung abzuholen. Adrien de Viefville, der Bürgermeister von Guise, begleitete sie nach Hause. Jean-Nicolas schien noch ganz benommen von seinem mühelosen Sieg; jetzt hieß es für Versailles packen. Als sie die Place des Armes überquerten, blieb er stehen und sah an seinem Haus hinauf. »Was machen Sie?«, fragte sein Verwandter.
»Die Dachrinnen inspizieren«, erklärte Jean-Nicolas.
Schon am nächsten Morgen war der Traum ausgeträumt. Maître Desmoulins erschien nicht zum Frühstück. Madeleine hatte sich auf festliches Tassengeklimper eingestellt, Glückwünsche von allen Seiten, vielleicht sogar ein Lachen hier und da. Aber die Kinder, die zu Hause waren, hockten alle mit Schnupfen auf ihren Zimmern, und sie durfte mit einem Sohn bei Tisch sitzen, den sie nicht gut genug kannte, um mit ihm zu reden, und der ohnehin kein Frühstück aß.
»Kann es sein, dass er schlechter Laune ist?«, fragte sie. »Ausgerechnet heute? Das kommt davon, wenn man königliche Sitten nachahmt und getrennt schläft – nie weiß ich, was der Kerl denkt.«
»Soll ich nach ihm schauen?«, erbot sich Camille.
»Nein, lass nur. Nimm dir noch Kaffee. Im Zweifel schickt er mir ein Billett.«
Madeleine betrachtete ihr ältestes Kind. Sie steckte sich ein Stück Brioche in den Mund. Zu ihrer Verblüffung klebte es dort wie ein Klumpen Asche. »Was ist mit uns passiert?«, sagte sie. Tränen schossen ihr in die Augen. »Was ist mit dir passiert?« Am liebsten hätte sie den Kopf auf den Tisch gelegt und laut losgeschluchzt.
Wenig später ließ Jean-Nicolas sie wissen, dass er unpässlich sei. Er habe Schmerzen, sagte er. Der Arzt kam und verordnete Bettruhe. Botschaften wurden zum Haus des Bürgermeisters geschickt.
»Ist es das Herz?«, erkundigte Desmoulins sich mit matter Stimme. Wenn ja, wollte er hinzufügen, dann ist Camille schuld.
Der Arzt sagte: »Ich habe Ihnen oft genug erklärt, wo Ihr Herz sitzt und wo Ihre Nieren sitzen und wie es um beides bestellt ist; und während Ihrem Herzen nicht das Geringste fehlt, wäre es schierer Wahnsinn, mit zwei solchen Nieren nach Versailles reisen zu wollen. Sie werden in zwei Jahren sechzig – wenn, aber wirklich nur wenn , Sie sich extrem schonen. Abgesehen davon …«
»Ja? Was wollten Sie sagen?«
»Was in Versailles passiert, wird bei Ihnen viel eher zum Herzinfarkt führen als alles, was Ihr Sohn je angestellt hat.«
Jean-Nicolas ließ den Kopf zurück in die Kissen sinken. Sein Gesicht war gelb vor Schmerz und Enttäuschung. Unten im Salon warteten die de Viefvilles, die Godards und sämtliche Wahlbeauftragten. Camille ging mit dem Arzt zu ihnen. »Sagt ihm, es ist seine Pflicht, nach Versailles zu gehen«, forderte er sie auf. »Und wenn es ihn umbringt.«
»Du warst schon immer ein herzloser Bursche«, sagte M. Saulce.
Camille drängte sich in einen Kreis von de Viefvilles. »Schickt mich«, schlug er vor.
Jean-Louis de Viefville des Essarts, Advokat, Parlamentsabgeordneter, fasste ihn durch sein Pincenez ins Auge. »Camille«, sagte er, »dich würde ich nicht einmal zum Markt schicken, um einen Salatkopf zu holen.«
ARTOIS : Die drei Stände kamen getrennt zusammen, und Klerus und Adel signalisierten beide, dass sie in dieser Zeit nationaler Bedrängnis bereit wären, einige ihrer überkommenen Privilegien zu opfern. Der Dritte Stand schickte sich an, ein überschwängliches Dankesvotum zu formulieren.
Ein junger Mann aus Arras ergriff das Wort. Er war klein und schmächtig, sein Rock war auffällig gut geschnitten, seine Hemdbrust makellos sauber. Er hatte ein intelligentes, ernstes Gesicht mit schmalem Kinn und großen blauen, durch Brillengläser abgeschirmten Augen. Seine Stimme trug nicht recht; in der Mitte der Rede versagte sie sekundenlang völlig; die Zuhörer mussten sich vorbeugen und ihre Nachbarn anstupsen, um zu verstehen, was er sagte. Aber nicht seine Art des Vortrags war es, die für Aufsehen sorgte. Er sagte, Klerus und Adel hätten nichts weiter Preiswürdiges getan, sondern lediglich versprochen, Versäumtes nachzuholen. Darum gebe es keinerlei Anlass zur Dankbarkeit.
Unter den Leuten, die nicht aus Arras kamen und ihn nicht kannten, regte sich Erstaunen, als er unter die acht Abgeordneten des Dritten Standes für Artois gewählt wurde. Er schien so verschlossen und unzugänglich, verfügte über keine rhetorischen Kniffe, keinen Stil – er machte so gar nichts her.
»Schau an, du hast deine Schneiderrechnung beglichen«, sagte seine
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