Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
hechelnd herum, Zeitungsverkäufer plärrten. Feierstimmung lag in der Luft: tollkühnes Feiern, ein Tanz auf dem Vulkan.
Camille stand auf einem Stuhl, sein Haar flog im leichten Windzug. Er hielt ein Blatt Papier in der Hand, von dem er ablas, anscheinend eine Polizeiakte. Als er fertig war, streckte er das Blatt mit spitzen Fingern von sich und ließ es zu Boden flattern. Die Zuhörer brüllten vor Lachen. Zwei Männer wechselten einen Blick und verdrückten sich an den Rand der Menge. »Informanten«, sagte Fréron. Dann sprach Camille mit herzlicher Verachtung über die Königin, und die Menge zischte und stöhnte; er sprach von der Notwendigkeit, den König von seinen übelwollenden Beratern zu erlösen, und pries M. Necker, und die Menge applaudierte. Er sprach von dem guten Herzog Philippe, dem Wohltäter des Volkes, und die Menge warf ihre Hüte in die Luft und jubelte.
»Sie nehmen ihn fest«, sagte Hérault.
»Was, vor diesen ganzen Leuten?«, fragte Fabre.
»Sie holen ihn sich nachher.«
D’Anton blickte sorgenvoll. Die Menge wuchs. Camilles Stimme erreichte jedes Ohr ohne jegliches Hemmnis. Ob zufällig oder mit Absicht hatte er einen prononcierten Pariser Akzent entwickelt. Aus den anderen Gärten fanden sich noch mehr Zuhörer ein. Vom Fenster über einem Juwelierladen blickte Laclos, der Mann des Herzogs, gelassen auf das Treiben hinab. Von Zeit zu Zeit nippte er an einem Glas Wasser oder machte sich eine Notiz für seine Akten. Heiß wurde es, immer heißer: Laclos allein blieb kühl. Camille fuhr sich über die Stirn, wischte den Schweiß ab. Jetzt griff er die Kornspekulanten an. Laclos schrieb: »Der beste bisher.«
»Gut, dass Sie uns Bescheid gesagt haben, Hérault«, sagte d’Anton. »Aber ich sehe keine Chance, ihn jetzt noch zum Schweigen zu bringen.«
»Und all das verdankt er mir«, sagte Fabre. Sein Gesicht leuchtete vor Triumph. »Ich hab dir gesagt, Camille muss man hart anfassen. Man muss ihn in den Hintern treten.«
Als Camille an diesem Abend von Fréron wegging, fingen zwei Herren ihn ab und ersuchten ihn höflich, sie zum Herzog von Biron zu begleiten. Ein Wagen wartete bereits. Unterwegs sprach niemand ein Wort.
Camille war heilfroh darüber. Die Kehle tat ihm weh. Sein Stottern war zurückgekehrt. Auch vor Gericht gelang es ihm manchmal, es loszuwerden, immer dann, wenn ein Fall ihn mitriss. Wut vertrieb es, Entrüstung, Besessenheit; aber nie für lange. Und jetzt war es wieder da, und er musste bei seinen alten Taktiken Zuflucht suchen. Keinen Satz konnte er zu Ende sprechen, ohne im Geist schon vier oder fünf Sätze vorzugreifen und nach Wörtern zu fahnden, die er nicht heil herausbekommen würde. Dann musste er Synonyme finden – völlig bizarre zuweilen – oder einfach etwas anderes sagen als geplant … Er spürte wieder Fabres Hand, die ihm den Kopf brutal gegen die Armlehne des Sessels rammte.
Den Herzog von Biron bekam er nur einen Moment lang zu Gesicht; ein knappes Nicken, und dann wurde Camille im Eiltempo eine Galerie entlanggeführt, tiefer hinein ins Innere des Gebäudes. Die Luft war stickig, Wandleuchter streuten das Licht. An gobelinverhängten Wänden waren die Gestalten von Göttinnen, Rössern, Menschen zu ahnen: wollene Arme, wollene Hufe, Tapisserien, die den Geruch von Kampfer und Feuchtigkeit ausströmten. Jagdfieber, das war das Motto; er sah geifernde Bluthunde, geifernde Spaniels, graugesichtige Jäger im antiken Gewand, einen angeschossenen Hirsch, der in einem Fluss ertrank. Er hielt abrupt inne, von Panik gepackt, einem jähen Drang wegzulaufen. Einer seiner Begleiter nahm ihn behutsam beim Arm und zog ihn weiter.
Laclos erwartete ihn in einem kleinen, mit grüner Seide ausgeschlagenen Raum. »Nehmen Sie Platz«, sagte er. »Erzählen Sie mir etwas über sich. Erzählen Sie mir, was Ihnen durch den Kopf gegangen ist, als Sie heute dort hinaufgestiegen sind.« Steif und beherrscht, wie er war, konnte er nur staunen, wie jemand aus seinen blankliegenden Nerven so viel Kapital schlug.
De Sillery, ein Freund des Herzogs, kam hereingeschlendert und schenkte Camille Champagner ein. Heute Abend wurde nicht gespielt, er langweilte sich; warum nicht ein wenig mit diesem sonderbaren kleinen Aufrührer plaudern? »Sie haben Geldsorgen, nehme ich an«, sagte Laclos. »Davon könnten wir Sie befreien.«
Als er mit seinen Fragen durch war, kehrten auf ein verstecktes Signal von ihm die beiden schweigsamen Herren zurück, und der Ablauf
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