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Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety

Titel: Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hilary Mantel
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Dächer der Rue Montreuil gestürmt, wo sie die Schieferplatten unter ihren Füßen herausrissen. Die Soldaten wichen vor dem Geschosshagel zurück, über die Leiber der zu Boden Gegangenen stolpernd, die Hände schützend vor Gesichter und Köpfe erhoben, von denen das Blut lief. Sie eröffneten das Feuer. Es war halb sieben Uhr abends.
    Bis um acht waren frische Truppen eingetroffen. Der Mob wurde zurückgedrängt. Die Leichtverwundeten wurden weggebracht. Verhüllte Frauen schleppten Eimer mit Wasser herbei, um Wunden auszuwaschen und den Menschen, die Blut verloren hatten, zu trinken zu bringen. Die Ladenfronten klafften, Türen hingen schief in ihren Angeln, bei vielen Häusern stand nur noch das nackte Mauerwerk. Der Boden knirschte von Glasscherben und zersplittertem Schiefer, Fliesen klebten von Blut, an verkohltem Holz leckten kleine Feuerzungen. Die Keller von Titonville waren geplündert worden, und die Männer und Frauen, die die Fässer eingetreten und die Flaschenhälse abgeschlagen hatten, lagen halb bewusstlos in ihrem Erbrochenen. Rachsüchtige Gardisten knüppelten auf ihre wehrlosen Leiber ein. Ein Rotweinbächlein sprudelte über die Pflastersteine. Um neun rückte die Kavallerie in voller Stärke an. Die Schweizergarde kam mit acht Kanonen. Der Tag war zu Ende. Dreihundert Leichen verstopften die Straßen.
    Bis zum Tag des Begräbnisses setzte Gabrielle keinen Fuß vor die Tür. In ihrem Schlafzimmer eingeschlossen, betete sie für die kleine Seele, die in diesem einen Jahr in einem Körper schon gesündigt hatte, durch Unmäßigkeit, durch Ungeduld, Gier nach Milch. Später würde sie in die Kirche gehen und dort Kerzen für die unschuldigen Kinder anzünden. Vorerst rollten ihr nur riesige Tränen die Wangen hinab.
    Louise Gély kam zu ihr herunter. Sie holte nach, was die Dienstboten versäumt hatten – raffte die Kleider und Decken des Kleinen zusammen, hob seinen Ball und seine Stoffpuppe auf und trug sie in einem Bündel nach oben. Ihr schmales Gesicht blickte entschlossen, als wäre sie es gewohnt, sich um Trauernde zu kümmern, und wüsste, dass man ihnen gegenüber hart bleiben muss. Dann setzte sie sich neben Gabrielle und umfasste die rundliche Hand der Älteren mit ihren knochigen Kinderfingern.
    »Tja«, sagte Maître d’Anton, »da nimmt gerade alles Formen an, und der große Ratschluss des allmächtigen Stümpers oben im Himmel –« Die Frau und das Mädchen sahen entsetzt auf. Er schaute finster. »Diese Religion hat keinen Trost mehr für mich.«
    Nach dem Begräbnis kamen Gabrielles Eltern mit zu ihnen nach Hause. »Du musst nach vorn blicken«, mahnte Angélique sie. »Du kannst leicht noch zehn Kinder bekommen.« Ihr Schwiegersohn starrte bedrückt vor sich hin. M. Charpentier ging seufzend auf und ab. Er fühlte sich überflüssig. Er stellte sich ans Fenster und sah auf die Straße hinaus. Gabrielle ließ sich zu ein paar Bissen überreden.
    Im Lauf des Nachmittags schwang die Stimmung im Zimmer um. Das Leben musste schließlich weitergehen. »Das ist doch kein Zustand für einen Mann, der früher alles aus erster Hand zu erfahren pflegte«, sagte M. Charpentier. Er versuchte seinem Schwiegersohn zu bedeuten, dass die Frauen allein sein wollten.
    Georges-Jacques stand widerwillig auf. Sie setzten ihre Hüte auf und gingen durch die lärmenden, überfüllten Straßen zum Palais Royal und ins Café du Foy. M. Charpentiers Bemühungen, den Jüngeren ins Gespräch zu ziehen, verliefen im Sande. Sein Schwiegersohn stierte einfach geradeaus. Das Gemetzel in der Stadt interessierte ihn nicht, ihn beschäftigte sein eigener Verlust.
    Als sie sich ins Café hineindrängten, sagte Charpentier: »Ich kenne hier gar niemanden mehr.«
    D’Anton sah sich um. Er erkannte deutlich mehr Gesichter, als er gedacht hätte. »Die Patriotische Gesellschaft des Palais Royal trifft sich hier.«
    »Was sind das für Leute?«
    »Die üblichen Tagediebe.«
    Billaud-Varennes schlängelte sich zu ihnen durch. D’Anton hatte ihm seit Wochen nichts mehr zugeschanzt; sein gelbes Gesicht war ein zu unerfreulicher Anblick, und wie sein Kanzlist Paré sagte, man konnte nicht sämtliche arbeitsscheuen Sauertöpfe im Viertel in Lohn und Brot halten.
    »Was sagen Sie dazu?« Billauds Augen, sonst immer wie kleine unreife Beeren, glänzten heute regelrecht. »Desmoulins bekennt endlich Farbe. War bei Philippes Leuten. Hat sich von ihnen kaufen lassen.« Er warf einen Blick über die Schulter. »Ah, wenn

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