Brüder - Mantel, H: Brüder - A Place of Greater Safety
wiederholte sich in umgekehrter Reihenfolge: die Marmorkühle unter den Sohlen, das Stimmgemurmel hinter verschlossenen Türen, das plötzliche Anschwellen von Gelächter und Musik in unsichtbaren Gemächern. Die Gobelins, sah er nun, waren von Lilien, Rosen und blauen Birnen gesäumt. Draußen war die Luft um nichts kühler. Ein Lakai leuchtete ihnen mit einer Fackel. Der Wagen stand schon vor der Tür.
Camille lehnte den Kopf in die Polster zurück. Einer seiner Begleiter zog einen Samtvorhang vor, sodass ihre Gesichter vor Blicken geschützt waren. Laclos ließ das Abendessen ausfallen und begab sich wieder an seinen Schreibtisch. Dem Herzog ist gut gedient mit Publikumslieblingen, schrieb er, mit exaltierten Flegeln wie diesem hier.
Am Abend des 22. April, einem Mittwoch, mochte Gabrielles einjähriger Sohn nicht essen, stieß den Löffel weg, lag matt und wimmernd in seinem Bettchen. Sie holte ihn hinüber ins Elternbett, und dort schlief er, aber als es hell wurde, spürte sie seine Stirn an ihrer Wange, trocken und brennend heiß.
Catherine lief zu Doktor Souberbielle. »Husten?«, sagte der Doktor. »Immer noch appetitlos? Halb so schlimm. Nein, eine gesunde Jahreszeit ist das nicht.« Er tätschelte ihre Hand. »Schauen Sie zu, dass Sie sich etwas ausruhen, meine Liebe.«
Am Abend war noch keine Besserung eingetreten. Gabrielle schlief ein, zwei Stunden, dann löste sie Catherine ab. Sie setzte sich auf einen harten Holzstuhl und lauschte den Atemzügen des Kleinen. Sie konnte nicht anders, sie musste ihn alle paar Minuten berühren, und wenn sie ihm nur eine Fingerspitze an die Wange oder die Hand auf die rasselnde Brust legte.
Um vier schien es ihm besser zu gehen. Das Fieber war gesunken, die Fäustchen ballten sich nicht mehr so fest, die Lider schlossen sich zu einem leichten Schlummer. Sie lehnte sich zurück, erleichtert, ihre Gliedmaßen kraftlos vor lauter Erschöpfung.
Der Fünf-Uhr-Schlag riss sie aus wirren Träumen. Sie fuhr in ihrem Stuhl hoch, fast wäre sie gefallen. Sie stand auf, elend und kalt, griff haltsuchend nach dem Gitter des Bettchens. Der Kleine lag auf dem Bauch, reglos. Sie musste nicht hinfassen, um zu wissen, dass er tot war.
An der Kreuzung Rue Montreuil/Faubourg Saint-Antoine stand ein riesiges Bauwerk, das bei den Anwohnern Titonville hieß. Im Obergeschoss lagen die (angeblich kostspieligst ausgestatteten) Privaträume eines gewissen M. Réveillon. Unter der Erde erstreckten sich gewaltige Keller, in deren Dunkel erlesene Jahrgangsweine reiften. Zu ebener Erde befand sich die Quelle von M. Réveillons Wohlstand – eine Tapetenfabrik mit dreihundertfünfzig Angestellten.
M. Réveillon hatte Titonville erworben, nachdem der ursprüngliche Besitzer bankrottgegangen war, und einen florierenden Exporthandel begründet. Er war ein reicher Mann, einer der größten Arbeitgeber in ganz Paris, und so war es nur natürlich, dass er für die Generalstände kandidierte. Am 24. April ging er voll schönster Hoffnung zur Wahlversammlung in Sainte-Marguerite, wo seine Nachbarn ihm ehrfürchtig lauschten. Guter Mann, Réveillon. Versteht sein Geschäft.
M. Réveillon verkündete, dass der Brotpreis zu hoch sei. Beifallsgemurmel und ein wenig liebedienerischer Applaus, als sei die Erkenntnis neu. Wenn der Brotpreis fiele, sagte M. Réveillon, dann könnten die Löhne gesenkt werden, was wiederum die Fabrikwaren billiger machen würde. Denn wo, so fragte M. Réveillon, sollte es andernfalls hinführen? Preise hoch, Löhne hoch, Preise hoch, Löhne hoch …
M. Hanriot, dem das Salpeterwerk gehörte, stimmte diesen Ausführungen aufs wärmste bei. Die Leute in Türnähe gaben das Gesagte fetzenweise an die Nicht-Wahlberechtigten weiter, die sich draußen in der Gasse drängten.
Nur ein Punkt in M. Réveillons Programm stieß auf öffentliches Interesse: der Vorschlag, die Löhne zu senken. Er trieb das ganze Viertel auf die Straßen.
De Crosne, der Polizeidirektor, hatte bereits vor Unruhen in Saint-Antoine gewarnt. Der Distrikt wimmelte von Wanderarbeitern, es herrschte hohe Arbeitslosigkeit, die Verhältnisse waren beengt, die Zungen lose, die Stimmung explosiv. Die Nachricht brauchte lange, um sich in der Stadt auszubreiten; aber sie gelangte bis Saint-Marcel, und ein Zug von Protestlern setzte sich in Richtung Fluss in Marsch. Ein Trommler an ihrer Spitze schlug den Takt, und sie schrien nach Blut:
Tod den Reichen
Tod dem Adel
Tod den Hamsterern
Tod den
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