Brüder und Schwestern
auch ein kleiner Psychologe in ihm, aber jene Müdigkeit zu deuten, das überforderte ihn nun doch. Ob sie vielleicht schwanger ist? Ob sie das viele Kohlendioxid im Gewächshaus nicht verträgt? Das waren die Fragen, die sich ihm aufdrängten. Karin Werth hingegen vertrug bloß seinen Enthusiasmus nicht, es tat ihr vielleicht sogar weh, den bei ihm zu sehen.
»Weshalb machen Sie das eigentlich alles?« fragte sie unvermittelt.
Heiner Jagielka fühlte sich vor die Entscheidung gestellt, darauf entweder wahrheitsgetreu oder mit einer seiner mehr oder minder plausiblen Ausflüchte zu antworten. Er wählte, vielleicht wegen Karin Werths Erschöpfung, die ihn milde stimmte, Variante eins: »Ehrlich gesagt, befinden wir uns hier mitten in einer Goldgrube … oh, schimpfen Sie nicht mit mir, Fräulein, schimpfen Sie nicht, weil ich eben noch die Unkosten in den Vordergrund gestellt habe, ein Moment der Schwäche, ein Moment der Schwäche.«
Karin Werth winkte ab.
Heiner Jagielka dankte für ihr Verständnis, nicht ohne hinzuzufügen: »Und fragen Sie mich nicht nach Zahlen, fragen Sie nicht, aber ich weiß ja, daß Sie mich nicht in Verlegenheit bringen werden, nein das werden Sie nicht tun, denn Sie haben Anstand, ich fühle es …«
Karin Werth winkte abermals ab, gereizt jetzt schon: »Ihre Zahlen interessieren mich nicht. Ihre Goldgrube sei Ihnen gegönnt. Jeder nach seiner Fasson.«
»Der Alte Fritz, hehe«, rief Heiner Jagielka, »ganz meine Devise!« Er stutzte: »Aber wenn meine Goldgrube Sie nicht interessiert – was dann?«
Karin Werth schüttelte den Kopf: »Es würde zu weit führen, Ihnen das zu erklären. Ein andermal vielleicht.« Sie erhob sich und machte Anstalten zu gehen.
Worauf Heiner Jagielka sie mit vorgestreckten Armen aufhielt: »Ich bin natürlich der letzte, der Sie zu etwas zwingen würde. Ich könnte das gar nicht, glauben Sie mir. Und indem Sie mir einen weiteren Besuch in Aussicht stellen, machen Sie mich ja noch zusätzlich schwach, Fräulein. Dessenungeachtet muß ich Sie aber bitten, doch noch ein wenig zu bleiben. Nur ein wenig. Sie schulden mir nämlich noch Ihre Erklärung. Ich habe Ihnen das meinige berichtet, jetzt sind Sie an der Reihe, Müdigkeit hin, Müdigkeit her. Also, warum mögen Sie meine Blumen nicht – nun aber heraus mit der Sprache!«
*
Karin Werth verlangte, daß er sich ebenfalls setze, denn eine Beichte, die müsse ja wohl auf gleicher Höhe abgegeben und empfangen werden.
Ihr Wunsch wurde ihr erfüllt und überdies mit einem Händereiben quittiert: »Eine Beichte sogar, herrjemine, wenn Sie wüßten, wie neugierig ich bin!«
Karin Werth schaute zu Boden: »Nichts Dramatisches …«
»Kommen Sie, kommen Sie, Sie hatten mir etwas versprochen, das nicht belanglos ist.«
»Für mich nicht belanglos«, korrigierte Karin Werth. »Im Grunde geht es nur darum, daß ich Nelken … ich rede ausschließlich von Ihren Nelken, Sie haben ja jetzt Ihr Sortiment erweitert, aber damals hatten Sie nur diese Nelken im Angebot … daß ich sie partout nicht ausstehen kann, und ausstehen kann ich sie nicht, weil sie so eng mit dem 1. Mai zusammenhängen, mit den Parolen, sie sind selbst zu Parolen geworden, wertlos, hohl.«
»Und das ist alles?« fragte Heiner Jagielka erstaunt und enttäuscht.
Sie bestätigte es.
»Dürftig.«
Plötzlich brauste sie auf: »Was sind Sie für ein Ignorant! Sie haben ja nur Ihren Gewinn im Kopf! Wieso, bitte, soll das dürftig sein? Ich habe mich Ihnen eben ausgeliefert, begreifen Sie das eigentlich? Kann ich denn wissen, wohin Sie …« Sie verstummte mitten im Satz.
»Reden Sie weiter, Fräulein, ich höre.«
Karin Werth stülpte ihre Unterlippe nach innen, drückte ihre Schneidezähne hinein.
»Wohin ich mit meinen Informationen renne, wollten Sie sagen, nicht wahr?« Jagielka blickte sie mit einer Traurigkeit an, von der sie beim besten Willen nicht sagen konnte, ob sie echt oder gespielt war.
»Natürlich«, brach es nun aus ihr heraus, »Sie sind doch deren Hoflieferant, denken Sie, ich wüßte das nicht? Woher kamen denn die Unmengen echter Nelken beim letzten 1. Mai? Ganz Gerberstedt war bedeckt davon. Das war doch aufsehenerregend genug. Das haben doch die Spatzen von den Dächern gepfiffen, woher die plötzlich gekommen sind. Sie scheinen über die allerbesten Kontakte zu verfügen.«
»Dann verwundert mich nur eines«, sagte Jagielka. »Warum Sie sich soeben offenbart haben, wenn Sie doch der Meinung sind, Sie hätten
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