Brüder und Schwestern
verschwiegen), würde sie alles auch noch überall herumerzählen. Nein, er mußte ihr gegenüber mit offenen Karten spielen, gerade weil sie ihm verschwiegen schien. Wenn er ihr alles erzählte, und nur dann, bliebe es unter ihnen beiden. Also los …
Heiner Jagielka verbeugte sich vor ihr und sagte: »Sie sehen mich geschlagen, Fräulein. Ich bin Ihr Gefangener. Ich bin vollkommen in Ihrer Hand.« Er öffnete die Scheunentür und lud Karin Werth mit einer ausholenden Armbewegung in den riesigen Stall ein. Aus dem eine wahre Lichtwolke zu ihr quoll. Sie senkte den Kopf, schloß die Augen, stand wie ein scheuendes Pferd. Kurz schoß ihr der Gedanke durchs Hirn, der verrückte Kerl habe eine Supernova vom Himmel gepickt und hier eingesperrt.
»Sie gewöhnen sich dran«, rief Jagielka frohgemut, »keine Bange, Sie gewöhnen sich dran!«
Karin Werth öffnete langsam die Augen, erkannte zunächst nichts. Dann hob sich aus dem Gleißen etwas heraus – das riesige, nahezu die gesamte Scheune ausfüllende Gewächshaus, das Heiner Jagielka mittlerweile aufgezogen hatte. Allerdings handelte es sich keineswegs um ein gewöhnliches Gewächshaus. Nicht in Reihen war hier gepflanzt, und nicht auf Erde, sondern in Hunderten rechteckigen, ausgebuchteten Plastebahnen, die Karin Werth an Badewannen erinnerten. In einigen schwamm nichts als eine undefinierbare Pampe. Jagielka deutete dorthin und sagte beiläufig: »Da war die heutige Ernte drin.« In anderen wiederum ragten aus der Pampe unzählige Stiele hervor, die nicht viel größer waren als lange Nägel. Jagielka prophezeite, abermals recht beiläufig: »Die sind morgen soweit.«
»Wie … wie weit?« fragte Karin Werth. Es war ja schon auf der Wiese für sie nicht besonders schwer gewesen, darauf zu kommen, daß mit den Blumen, die Jagielka schleppte, in der Scheune irgend etwas geschah, selbst der Dümmste hätte das bemerkt. Aber der jetzige Anblick, die erstaunliche Größe und Helligkeit und überhaupt die ganze Beschaffenheit der Installation, vor allem aber die ungeheure Selbstverständlichkeit, mit der Jagielka etwas erklärt hatte, was eigentlich ins Reich der Fabel gehörte, denn er sprach ja wohl über ein vollständiges Wachstum der krepeligen Stiele über Nacht, das war doch richtig, oder? ließen sie denn doch kurzzeitig die Contenance verlieren und sogar an ihrem Verstand zweifeln.
»Na ganz einfach, die können morgen raus.« Jagielka sah Karin Werth gelassen an.
»Morgen«, nickte sie, »natürlich.« Sie versuchte, wieder etwas mehr Gleichmut zu zeigen.
Sie bemerkte jetzt auch, woher das Licht kam, das sie für einen Moment hatte glauben lassen, sie würde auf der Stelle erblinden, nämlich aus tropfenförmigen, an den Streben der Gewächshausdecke hängenden Metallschalen, die sie aus irgendeinem Zusammenhang schon zu kennen meinte, nur aus welchem? Mit, so hoffte Karin Werth, ähnlicher Beiläufigkeit, wie Jagielka sie an den Tag legte, fragte sie: »Woher sind die Dinger … die da? Helfen Sie mir mal kurz …«
»Von der Straße. Sie pflegen dort an hohen Pfählen zu hängen.« Jagielka, erheitert durch die Verwirrtheit des Fräuleins, fügte grienend hinzu: »Sie sind eindeutig das Luxuriöseste, was ich hier habe, falls Sie verstehn …«
Karin Werth schaute Jagielka irritiert an und verdrehte dann die Augen, wegen der eigenen Begriffsstutzigkeit, oder weil ihr sein Wortspiel etwas billig erschien.
Heiner Jagielka hob kurz die Achseln, was ebenfalls ziemlich vieles bedeuten konnte.
»Gut«, sagte sie schließlich, »gut, hier züchten Sie also Ihre Blumen, in Ordnung. Wenn ich es recht begreife, sorgen Sie für ein ungewöhnlich schnelles Wachstum, indem Sie Ihre Pflanzen einem vielfach stärkeren Licht aussetzen, als andere Gärtner es tun. Richtig?«
»Richtig.« Auf den Einwand, er sehe sich viel weniger als Gärtner denn als Erfinder, verzichtete Jagielka großzügig. Ihm war jetzt klar, von diesem Fräulein drohte keine Gefahr. Es würde seiner Erfolgsformel nicht näher kommen. Es dachte tatsächlich, allein die Lampen machten den Effekt! Es hatte ja nicht die geringste Kenntnis von den Naturwissenschaften (wenngleich es auf seine Art durchaus klug zu sein schien). Völlig umsonst war ihm also angst und bange gewesen. Doch obwohl er das alles, sachlich gesehen, mit entschiedener Erleichterung hätte aufnehmen müssen, machte sich bei Heiner Jagielka plötzlich ein ganz anderes Gefühl breit, das der Enttäuschung. Jawohl, plötzlich
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