Brüder und Schwestern
er war schon am Überlegen, wie er es wohl organisieren sollte, daß die Makulatur, gegen die üblichen und bewährten Gepflogenheiten, nicht in die Hände derer gelangte, die sie druckten. Es fiel ihm, so auf Anhieb, gar nichts ein.
*
Dann stand Heinrich Overdamm in Willys Tür. Er trug eine dunkelbraune Cordhose und ein ockerfarbenes Sakko aus einem von Willy nicht näher bestimmbaren, jedenfalls exquisiten Stoff, dazu ein Halstuch in eben dem Dunkelbraun der Hose. Wie snobistisch, dachte Willy im ersten Moment, fehlen nur noch Handschuhe und Pferd.
Er ging auf Overdamm zu, registrierte dessen markantes Gesicht: die breite Stirn mit Furchen, die sich fast von einer Schläfe zur anderen zogen und, aus drei oder vier Metern Enfernung betrachtet, an die Maserung dicker Holzbohlen erinnerten; die riesige Nase mit den verwegen geformten Nüstern, aus denen ein paar Haare sprossen; schließlich das Nußknackerkinn. Doch es war nicht das Kinn eines allzu groben Nußknackers, wie überhaupt das ganze Gesicht nicht vierschrötig erschien. Von allem ein kleines bißchen mehr – mehr Breite, mehr Furche, mehr Nase, mehr Kinn –, und es hätte plump gewirkt, so aber vermittelte es nur den Eindruck von Entschlossenheit. Es war Willy nicht unsympathisch.
Sie tauschten ein paar Floskeln. Dann beschloß Willy, es sei an der Zeit, sich dem eigentlichen Gegenstand ihres Gesprächs zu nähern, und er stellte Overdamm eine Frage, die ihn schon die letzten Tage beschäftigt hatte: »Sie sind extra wegen mir nach Gerberstedt gekommen?«
»Bei allem Respekt, Herr Werchow – nein, das bin ich nicht. Ich hatte gestern abend schon ein Treffen hier in der Nähe, eines mit einem Dichter, den ich sehr schätze.« Overdamm schaute Willy neugierig an.
In Willy arbeitete es erkennbar, er gab sich alle Mühe herauszukriegen, um wen es sich handelte, aber beim besten Willen, er kam nicht darauf.
»Sie kennen ihn, Sie beide sind sich, wie er mir gestern erzählte, einmal vor Gericht begegnet.« Overdamm schaute nun regelrecht gespannt.
»Doch nicht etwa Kalus!«
»Kalus.«
Willy erinnerte sich der damaligen Verhandlung, bei der er, wie von Zeiller gefordert, als Geschädigter aufgetreten war, und an deren vorhersehbarem Ende Kalus zwölf Monate Knast bekommen hatte. Willy schoß das Blut ins Gesicht. Die ganze Zeit hatte er gedacht, er werde heute über Papier und Typographie reden – statt dessen wurde ihm plötzlich jene Begebenheit ins Gedächtnis zurückgerufen.
»Wo hat er gesessen?« fragte Willy mit finsterem Gesichtsausdruck.
»Bautzen.«
»Bautzen«, wiederholte Willy mit unveränderter Miene.
»Sie hegen Groll gegenüber Kalus?« fragte Overdamm. »Das verwundert mich. Ich darf Ihnen sagen, Kalus seinerseits hegt keinen Groll gegen Sie, obwohl er wahrlich Grund dazu hätte. Gewiß, er müßte zornig auf Sie sein, nicht umgekehrt.«
»Ich hege keinen Groll gegenüber Kalus«, stieß Willy hervor. Es lag ihm auf der Zunge zu erklären, daß er im Grunde auf dessen Seite gewesen war und sich nur nicht getraut hatte, es öffentlich zu bekunden – und daß er deswegen Groll gegen sich selber empfinde. Und noch etwas schoß ihm durch den Kopf, etwas, wovon Overdamm garantiert keine Ahnung hatte. Kalus war ja während der Verhandlung nicht von seiner Behauptung der alleinigen Täterschaft abgewichen, und Willy wußte, warum: Natürlich wollte er auf diese Weise Jonas Felgentreu und seine anderen Helfer schützen. Willy aber hätte alles auffliegen lassen können und, wäre er allein der Wahrheit verpflichtet gewesen, sogar auffliegen lassen müssen. Das Gericht war ja schon auf der richtigen Spur! Es löcherte Kalus mit Fragen, wie er trotz seines gebrochenen Arms 5000 Bücher beiseite geschafft haben wolle. – Na, gerade wegen des Arms, antwortete Kalus, der Arm sei doch von dickem Gips umschlossen gewesen, und bei einer bestimmten Packtechnik, hier, so, schauen Sie, hätten da sogar mehr Bücher draufgepaßt als auf die bloße Haut, ja, man dürfe die solcherart gestärkte Gliedmaße durchaus vergleichen mit dem eisernen Greifer eines Gabelstaplers, aus diesem und aus keinem anderen Grunde habe der Abtransport so reibungslos und zügig vollzogen werden können. – Wie schnell? – Das zu beantworten sei ihm unmöglich, das erinnere er nicht mehr. – Kleine Hilfe vielleicht: Es lägen Informationen vor, denen zufolge alle zwei Stunden ein eigens zu diesem Zwecke angestellter Wächter jenes Depot am Bahnhof aufsuchte und
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