Brüder und Schwestern
zerquetschende S-Bahn-Türen. Die hin- und herwackelnden Köpfe der im Waggon dösenden Arbeiter. Das schrottige Scheppern der Bahnhofsaufsichtsstimme. Die dreckige Landschaft, nein, die dreckigen Scheiben des D-Zuges. Der geschwätzige Stakschneider am Steuer des Dienstwagens. Der wie abwehrende Blick auf die vorüberhuschende Sparkasse. Die tanghaarige Dorle Perl im Vorzimmer. Der übliche Gang durchs Maschinenfett. Die beiläufige Art Dietrich Kluges beim Grüßen …
Es war dann schon 20 Uhr, als Willy den »Aufbruch« wieder verließ und nach zweitägiger Abwesenheit zum Werchowschen Haus strebte. Wie jeden Mitwoch war er rechtschaffen müde, wie jeden Mittwoch dachte er auf dem Heimweg, nun gleich seine Ruhe zu haben, jawohl, ein bißchen Ruhe hatte er insbesondere mittwochabends immer nötig.
Anders als sonst ließ sich aber Ruth, nachdem er das Haus betreten hatte, nicht blicken. Auch auf seine Rufe antwortete sie nicht. Er fand sie im Wohnzimmer. Sie hockte in einem der beiden schwarzen Drehsessel, die vor dem Couchtisch standen, und nahm seine kurze Umarmung starr und steif entgegen. Willy machte ein, zwei Schritte zurück. Jetzt erst bemerkte er, wie rot und verquollen ihre Augen waren. Was er da sah, bereitete ihm aber keine Schmerzen. Er vermochte auch nicht, ihr mitfühlend eine Frage zu stellen. Ruth wiederum öffnete, während sie ihn ansah, den Mund und begann so heftig zu atmen, daß sie Willy theatralisch vorkam. Zugleich wußte er, Ruth spielte nicht. Weder wagte er, sich einfach umzudrehen und aus dem Zimmer zu gehen, noch sich Ruth wieder zu nähern, so blieb er in einiger Entfernung vor ihr stehen. Plötzlich, zwischen zwei Atemstößen, brachte sie hervor: »Wo hast du geschlafen heute nacht?«
Hatte Willy jemals eine solch anklagende Frage gehört? Er zog die Brauen hoch, er wollte souverän wirken, aber seine Stimme war brüchig und seine Worte klangen hölzern, als er zurückfragte, was denn auf einmal in sie gefahren sei und worauf ihre seltsame Erkundigung überhaupt basiere.
»Wo du geschlafen hast, will ich wissen!« Ihr Atem ging unvermindert wild.
»Im Gästehaus, wo sonst.«
»Im Gästehaus, natürlich, im Gästehaus«, rief sie ungewohnt höhnisch, barg aber gleich darauf ihr Gesicht in den Händen.
»Ja«, sagte Willy nur. Er fühlte sich unanständig, weil er Ruth nicht half. Aber wie sollte er ihr jetzt helfen?
»Von wann bis wann warst du im Gästehaus?« Sie schaute ihn voller Vorwurf und, wie es schien, auch voller Scham an, bog den Oberkörper vor, streckte die Arme nach unten. Alles an ihr schrie, ich will das nicht, aber ich muß, muß – muß es fragen!
»Das ist ja verrückt«, rief Willy, »das ist wohl ein Verhör? Wie kommst du eigentlich dazu?« Er versuchte, seiner Stimme einen zornigen Ton zu geben, und spürte, es gelang ihm nicht.
Bei seinen letzten Worten war Ruth derart abrupt aufgesprungen, daß sie den Sessel in Schwung versetzt hatte und dieser sich jetzt drehte. »Daß du so tust! Daß du so tust! Ich will dir sagen, wie ich dazu komme, wie lange mir das alles schon auf der Seele liegt, wie lange es mich zerlöchert, ich sage dir, seit damals schon, seit dem seltsamen Telefonat! So lange!«
Willy wußte, worauf sie anspielte, konnte es aber nicht gestehen, und so fragte er, welches Telefonat sie um Himmels willen meine, tatsächlich, er gab sich hart wie eine Wand und zwang Ruth, gegen ihn zu klopfen und sich aufzuscheuern dabei.
»Damals … als ich dich spät noch anrief im Gästehaus, und plötzlich … plötzlich ruft eine Frau deinen Namen, und im Hintergrund rauscht Wasser, sie muß die Badtür aufgemacht haben, diese Frau, ich höre noch heute dieses Rauschen und diese Stimme, immer wieder … und ich frage dich, wer das ist, und du … du sagst, das Zimmermädchen.«
»Ja und?«
»Nach einer Pause …«, stöhnte Ruth.
»Pause?«
»Du hast erst geschwiegen, als müßtest du dir schnell was ausdenken, und dann erst hast du gesagt, das Zimmermädchen.«
»Aber Ruth, ich habe es aus dem Raum gewinkt, damit es uns nicht stört, deshalb hat es diese Pause gegeben.«
»Es war abends um zehn, abends um zehn, und du wolltest mir weismachen, es wäre das Zimmermädchen – und du behauptest es noch heute!«
»Es war das Zimmermädchen«, beharrte Willy.
Ruth trat unbeholfen zwei Schritte vor, kehrte sogleich um, setzte sich wieder. Sie zitterte jetzt am ganzen Körper, stützte sich mit ihren Unterarmen auf die Knie, senkte den Kopf, so
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