Brüder und Schwestern

des Feuerzeugs, mit dem der Lederne sich seine Zigaretten anzuzünden pflegte. Also rauchte er jetzt. Danach mußte er pinkeln gehen, so wie immer, er mußte, er mußte, davon hing alles ab, darin lag ihre Chance, und ja doch, er ging, Jagielka zeigte es ihr durch ein Klopfen an, Jagielka rannte ihm nach, um neben ihm Wasser abzuschlagen, ihn dabei in ein Gespräch zu verwickeln und noch ein paar Momente aufzuhalten. Sie hatte keine Ahnung, wie sehr er, während er sein Glied hielt, ein Zittern seiner Hand bekämpfen mußte; sie schlüpfte aus dem Spind, enterte den Laster, sie übersprang die erste Reihe der Kisten, fand dahinter den von Jagielka freigelassenen schmalen Gang, in den sie einen Fuß setzen konnte, sie drehte sich vorsichtig, vorsichtig wie auf einem Schwebebalken, um die eigene Achse, machte ein Schrittchen rückwärts, zerrte mit beiden Händen an den Kisten, verschloß so den Spalt, sie kauerte sich nieder, Astern oder Nelken oder Hyazinthen, weder konnte sie erkennen noch am Duft unterscheiden, welche Blumen das im einzelnen waren, kitzelten ihr am Handgelenk. Sie wagte buchstäblich nicht zu atmen, holte erst wieder Luft, als sie Jagielka die nächste Kiste hereinwuchten hörte. Einen Augenblick später rief er zum Ledernen: »Hehe, mich deucht, wir transferieren heute besonders schöne Exemplare unserer Aufzucht in den faulenden, sterbenden Kapitalismus!« Sie flehte bei sich, er möge das um Himmels willen unterlassen, jede Anspielung war doch jetzt eine zuviel. Dann, endlich, wurde die Plane hinuntergezogen.
    Die Fahrt verlief ohne Zwischenfälle und wurde von dem Ledernen auch nicht unterbrochen. Karin Werth sah, obwohl sie im verschlossenen Dunkeln hockte, die Landschaft an sich vorüberziehen. Sie fühlte das Sanfte der Thüringer Hügel, die der Lederne herauf und hinab fuhr, und ihr kamen wieder die Tränen. Sie wollte nicht, daß die geschwungenen Kurven ein Ende nähmen, sie mochte diese Landschaft überhaupt nicht verlassen, sie hatte doch nichts gegen die, nichts gegen die. Nach etwa einer Stunde gelangten sie auf die Autobahn, sie bemerkte es, noch bevor der Lederne Tempo aufnahm, am Ploppen der Reifen, das waren die Teerwülste zwischen den rissigen Betonplatten, über die sie nun holperten. Die Beschaffenheit der Piste machte es ihr etwas leichter, davonzufahren, sie mochte das alles nicht mehr sehen und nicht mehr spüren. Und es begann jetzt doch zu regnen, und außerdem ging ihr das harte Klimpern, das sie schon vor Tagen von ihrem Posten im Wald aus gehört und das auch heute wieder mit dem Anfahren eingesetzt hatte, auf die Nerven. Es rührte von den Haken her, mit denen die Plane befestigt war, sie ratschten, wohl weil das Ganze zu locker hing, an den ins Lasterholz geschraubten Ösen. Jetzt, auf der Autobahn, bauschte sich die Plane, und kalte feuchte Luft drang zu ihr herein; sie steckte die Hände zwischen ihre Schenkel, die einzige Bewegung, die ihr in der Enge möglich war. Und mit alldem, mit der Abwehr der Kälte und der Nässe, mit dem Ertragen der Geräusche und dem Empfangen der Stöße, war sie vollauf beschäftigt. Aber hatte sie in diesen Minuten nicht an ein paar liebe Menschen denken wollen, die sie nie wiedersehen würde? Ja, das hatte sie sich vorgenommen – nicht direkt vorgenommen, sie war sich einfach sicher gewesen, sie werde, wenn sie einmal auf dem Laster säße, unweigerlich und schön und traurig an sie denken, aber nun war das nicht möglich, nicht mit ihr Teurem hatte sie am Ende zu tun, nur mit Billigem.
    Der Lederne verlangsamte das Tempo. Sogleich pladderte der Regen lauter, oder es schien ihr nur so, weil er vorher vom Wummern des Motors und vom Rauschen des Fahrtwinds und vom Ratschen der Haken übertönt worden war. Lichter wischten über die Plane, erst kurz, dann länger, dann kam der Wagen zum Stehen. Hunde bellten, Stiefelabsätze klackten, sie wußte, das war Dreilinden, hier mußte sie noch durch, verrückterweise setzte sie jetzt all ihr Hoffnung in den Ledernen: daß seine Berichte stimmten, daß man ihn hier kennte und ihm schon seines Auftrags wegen vertraute. Daß er gleich wieder Gas geben durfte. Aber sie standen immer noch, und immer noch. Um sie herum auf einmal gedämpfte Stimmen, das Herz schlug ihr bis zum Halse und drang als Gedröhn aus ihrem geöffneten, vorsichtig atmenden Mund in die Welt – und die Welt, die finstere, schien es zu hören. Mit einem Ruck wurde die Plane hochgeschlagen. Weißes Licht flutete den Laster,