Brüder und Schwestern
daß ihr die Haare wirr vors Gesicht fielen, und hackte aus ihrem Zittern heraus wie von Sinnen mit den Fersen auf die Dielen. Dabei sagte sie fast tonlos: »Du hast eine Geliebte, ich spüre es, schon lange hast du eine Geliebte …«
»Das ist doch Unfug«, versuchte Willy sie zu besänftigen. Er nahm auf dem anderen Sessel Platz, beugte sich zu ihr.
Ruth hob den Kopf und schaute Willy an. In ihrem Gesicht zeigte sich eine Spur Hoffnung. Aber schon verlor die sich wieder. »Wir kennen uns schon so lange, du kannst mir doch nichts vormachen. Das ist sogar das Schlimmste, wie du versuchst, mir was vorzumachen, obwohl du weißt, du kannst es nicht. Schau dich doch an! Schau dich doch an!«
Willy hörte daraus nicht nur eine Anklage, sondern vor allem einen verzweifelten Verweis auf ihre gemeinsame Vergangenheit, und jenes »wir kennen uns schon so lange« ließ in ihm ein sentimentales Gefühl aufsteigen. Er dachte, es hat doch früher, bevor Ruth mir abhanden gekommen ist, auch schöne Momente gegeben, und er erinnerte sich einer Begebenheit aus der Zeit, als die Kinder noch nicht geboren waren. Sie fahren mit dem Motorrad über Land, Ruth und er. Plötzlich setzt der Motor aus. Er untersucht dies und das und findet nichts, da fragt Ruth, ob es vielleicht am Benzin läge. Liegt es, bestätigt er, sich verlegen die Stirn reibend, nachdem er nachgeschaut hat. Sie muß lachen über ihren Fachmann. Aber er hat sich ja auch schon deshalb die Stirn gerieben, weil er nicht die leiseste Ahnung hat, wie er hier zu Benzin kommen soll, keine Tankstelle weit und breit. Über diesen unangenehmen Umstand klärt er sie auf. Sie lacht noch einmal, sie ist ganz übermütig in dem Moment, sie schwingt sich auf das Motorrad, rutscht nach vorn, übern offenen Tank, sie pinkelt so glückstrahlend, wie noch nie jemand auf der Welt gepinkelt hat, da hinein und ruft: Natürliche Reserve! Versuch’s mal damit! Besser als nichts! … Ja, dachte er, das war herrlich … aber dazwischen gab’s auch immer schon andere Momente, in denen Ruth sich mir entzog, und so richtig viele wurden es, nachdem Rudi gestorben war und ich mich verplappert habe und sie erfuhr, daß ich Bescheid weiß darüber, was mal mit ihr gemacht worden ist. Von da an führte ja gar kein Weg mehr zu ihr. So und nicht anders bin ich an Veronika gekommen, entschuldigte er sich im stillen – aber gerade das kann ich Ruth nicht sagen, denn es würde sie vollends zerstören. Gar nichts kann und darf ich ihr erzählen. Und zwar um ihrer selbst willen, nicht um meinetwillen. Er versuchte, sich wieder auf ihre gegenwärtige Auseinandersetzung zu konzentrieren und Argumente zu finden, die geeignet sein würden, Ruth zu beruhigen.
»Hör mal, das ist ja unlogisch, was du sagst und denkst. Du wirfst mir vor, es wäre gar nicht das Zimmermädchen gewesen, sondern, ich wage es kaum zu wiederholen, eine Geliebte. Aber nehmen wir nur mal an, rein theoretisch, es wäre tatsächlich eine – warum sollte ich mich dann mit der nicht im Gästehaus getroffen haben? Wieso fragst du dann, wo ich geschlafen habe, wenn es doch im Gästehaus am einfachsten wäre? Das ergibt doch alles keinen Sinn, Ruth, das mußt du doch zugeben.«
»Weil ich dort angerufen habe!« stieß sie hervor.
»Wann angerufen?« fragte Willy überrascht, denn jenes damalige Telefonat, in das hinein Veronika dummerweise gesprochen hatte, war eine große Ausnahme gewesen; er und Ruth redeten fernmündlich sonst nie miteinander, zu kurz seine jeweilige Abwesenheit, und gerade darum hatte er, wie er bis eben dachte, gefahrlos sein Lager in der Dunckerstraße aufschlagen können.
»Das möchtest du wohl wissen, wann das war!«
»Natürlich – da du es behauptest, möchte ich wissen, wann das gewesen sein soll.«
»Damit du dir schnell wieder eine Ausrede einfallen läßt«, rief Ruth haßerfüllt, »du kannst mir auch gleich die Ausrede sagen, ich bin gespannt. Du glaubst gar nicht, wie gespannt ich darauf bin!«
Willy überlegte fieberhaft. Offenkundig hatte Ruth am Abend in dem Gästehaus-Zimmer angerufen, das er zu belegen vorgab (und das er, sicherheitshalber, ja pro forma tatsächlich noch belegte). Dann erklärte er: »Wenn du den gestrigen Abend meinst, so war ich mit Weitermann in der Kneipe. Ich bin erst lange nach Mitternacht zurück gewesen, und deshalb«, Willy gähnte demonstrativ, »bin ich jetzt auch ziemlich müde.«
Wie verrückt lachend, sprang Ruth erneut vom Sessel. Sie lief zur Schrankwand,
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