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Brüder und Schwestern

Brüder und Schwestern

Titel: Brüder und Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Meinhardt
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riß eine Tür auf, fingerte eine Broschüre heraus, wobei ihr eine andere herunterfiel, gab dieser einen Fußtritt und hielt jene triumphierend in die Höhe. Es war das Kursbuch. Sie öffnete es mit einem Ruck und hielt es Rudi vor die Nase, fehlte nicht viel, und sie hätte es ihm geradewegs ins Gesicht geschlagen. Dann tippte sie mit dem Finger auf eine zweifelsohne beliebige Stelle und schrie: »5 Uhr 58, um 5 Uhr 58 fährt dein Zug, wann mußt du da im Gästehaus los, wann? Ich sag’s dir, ich habe mich erkundigt, ich habe deine Wege nachvollzogen, spätestens um 4 Uhr 45!«
    Willy starrte sie entsetzt an. Worauf wollte Ruth hinaus? Er fragte sie das.
    »Worauf ich hinauswill?« wiederholte sie auf einmal gar nicht mehr laut. Es war, als habe sie plötzlich keine Kraft mehr, als habe sie sich schon verausgabt und müsse nun büßen für ihren kurzen Furor. Und sie wankte ja auch. Willy faßte sie am Arm, aber sie sagte wie abwesend, »laß doch, laß doch«, und tapste zum Sessel zurück. »Ich will, ich muß dir sagen, daß ich ab 4 Uhr immer wieder versucht habe, dich zu erreichen, aber du hast nicht abgenommen, darauf will ich hinaus.«
    Willy schwieg. Er fragte, nur um Zeit zum Überlegen zu gewinnen: »Aber wieso hast du es denn so oft versucht?«
    »Wieso?« Ruth sah ihn wie durch einen Schleier an. Dann erklärte sie mit dumpfer Stimme: »Weil die Bitternis einen anzieht wie ein betörender Duft. Man muß immer näher heran. Man muß sie inhalieren. Sie macht einen abhängig, o ja, sie hat eine schreckliche Magie. Du als Person hast gar keine Magie mehr, glaube ich, aber die Bitternis, die ich atme, wenn es im Hörer immer bloß tutet, nach der verlangt es mich sehr.«
    Willy mußte schlucken. Ruths Stimme war ihm fremd vorgekommen, und das, was sie seltsam leiernd gesagt hatte, erst recht. Er wandte sanft ein: »Das sind doch alles Mißverständnisse, Ruth. Ich wollte dich nicht schrecken, aber bitte, jetzt muß ich es dir wohl beichten: Weitermann und ich, wir haben die ganze Nacht getrunken«, er lachte, »wahrhaft gesoffen haben wir, in der Nähe seiner Wohnung, das ist im Prenzlauer Berg. Und da habe ich der Einfachheit halber gleich bei ihm geschlafen, was anderes lohnte doch nicht die zwei, drei Stunden, die übrigblieben. Ich wollte dir gegenüber nur nicht zugeben, daß wir uns so haben gehenlassen, Ruth. Hörst du, Ruth?«
    Sie nickte mechanisch.
    »Du verstehst das, nicht?« fragte Willy bettelnd.
    Ruth nickte abermals: »Dann schläfst du bestimmt schon viele Wochen bei Weitermann, denn viele Wochen versuche ich schon, dich im Gästehaus zu erreichen.« Sie lächelte ihn maskenhaft an.
    Willy erwog jetzt, alles, aber wirklich alles zuzugeben, doch sogleich wiederholte er bei sich, daß Ruth ja höchstens die Hälfte überstehen würde, und schwieg. Wie auch Ruth schwieg, so ging ihr Krach in eine gespenstische Stille über. Ruth war es, die als erste sich erhob und nach oben ins Schlafzimmer stieg. Irgendwann legte Willy sich neben sie. Er hörte ihren um Gleichmäßigkeit bemühten Atem, atmete selber auch so. Währte das eine halbe Stunde, eine ganze? Willy flüsterte endlich, er könne nicht einschlafen, am besten, er gehe nochmal raus, er werde zu Achim Felgentreu fahren.
    Wenig später ließ eine grimmig aus dem metallischen After der Jawa gejagte Wolke die Bäume entlang der Schorba husten.
    *
    Das Bahnwärterhäuschen stand in purer Natur. Während sich die Rückfront direkt an die dicken Stämme eines alten Eichenwaldes zu lehnen schien, dehnten sich vor dem Häuschen weite, in der Ferne ansteigende Felder, durch die, nicht geradewegs auf das Gebäude zu, sondern diagonal an diesem vorbei, die von Gerberstedt kommende Straße führte. Wie eine schnittige Schärpe lag sie auf der Landschaft.
    Als Willy sie hinabfuhr, sah er im matten Schein der Bahnübergangsbeleuchtung, wie Achim Felgentreu gerade die Kurbel drehte und die Schranken herunterließ. Willy hupte, noch bevor er sie erreicht hatte, und Achim, der vom Licht des Motorrades geblendet wurde und wohl dachte, ein Verrückter, so ein ganz Eiliger wolle im letzten Moment über die Gleise, machte eine unwirsche Geste.
    Da sah er, es war Willy, da machte er eine weitere Geste, eine entschuldigende, da ahnte er schon, sein Freund wolle was Wichtiges bereden, denn so spät war der noch nie aufgekreuzt bei ihm.
    Ein Güterzug donnerte heran, und Willy trat von den Schranken zurück.
    Im Häuschen dann sagte Achim, »Augenblick noch«,

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