Brüder und Schwestern
schien, daß er nicht wagte, jemandem davon zu erzählen. Und während er drückte oder auch nicht drückte, schaute er in die Gegend. Er liebte es, sie vorüberziehen zu sehen. Jetzt, am Sommeranfang, waren die Bäume von einem deutlichen Grün, und grün war auch das Wasser, beinahe so grün wie die Bäume, als ob diese von der Farbe, die sie jetzt im Überfluß besaßen, was übers Wurzelwerk in Seen und Kanäle fließen ließen. Und jetzt knarrten die Stege, obwohl doch niemand auf ihnen lief, ein Geräusch, das ans leise Knurren dösender Hunde erinnerte. Und wilder Wein kletterte da und dort echsengleich einen Kiefernstamm hinauf. Im Herbst wiederum, wenn es stürmte, blinkten und rauschten unzählige Silberpappelblätter, das sah aus, als würden Münzen hierhin und dorthin geworfen, das klang, als spendete in der Ferne eine Menschenmenge Applaus. Und auch im Herbst bemerkte und bestaunte Matti auf einem Ufergrundstück einen großen Sandhaufen, über den eine mit bröckligen Ziegelsteinen befestigte graue Plane bereitet war, diese Plane nämlich hatte sich an zwei Enden, den diagonal gegenüberliegenden, losgerissen und blähte sich und fiel wieder in sich zusammen wie ein langsam sich fortbewegender Rochen. Ein andermal schien ihm, als blase der Wind gleichzeitig und gleich kräftig von zwei Seiten, denn es trieben zwei Wolken stetig aufeinander zu, sie verhakten und vereinten sich zu einem einzigen großen Gebilde und Gemälde. Und noch ein andermal im Herbst bohrte sich mitten auf dem Oder-Spree-Kanal, weit weg vom Ufer und wahrhaft aus heiterem Himmel, ein einzelnes Birkenblatt mit dem spitzen Stiel voran wie ein Pfeil in den Treppenspalt vorm Steuerhaus; und im Winter hing dann an genau jenem Kanalufer fester Schnee überm Wasser, eine von Land gerollte, erstarrte Welle, die den Gesetzen der Schwerkraft trotzte; und ebenfalls im Winter mußten sich eines Nachts Metallspäne sonder Zahl in eine Wiese gegraben haben, so bläulichweiß zeigte die sich am Morgen. Im Frühling aber begannen endlich wieder die Kiefern nach Harz zu duften, eine Süße, die trocken herunterregnete, eine Luft zum Lutschen; und wie rothalsig die Kiefern auch gleich wurden in der ersten Abendsonne, sie glühten wie dürre verliebte Schulmädchen.
Matti fühlte sich schwer, wenn er so guckte, unverrückbar, aber er spürte seine Knochen nicht, und nicht seinen Kopf, und auch nicht seine Hände, nur eben die kribbelnde Kehle, denn er selber gehörte zu den tausend rauschenden, summenden, sich wiegenden Einzelheiten, die an ihm vorüberdrifteten. Freilich vermochte er jenes Gefühl nicht in Worte zu fassen, er merkte es, als Peter Schott ihn einmal fragte, ob es nicht langweilig sei, einfach so zu sitzen, und er antwortete: »Nein, wenn ich so gucke, dann ist das schön. Aber nicht nur schön. Es ist auch eindrucksvoll. Aber nicht eindrucksvoll in dem Sinne, wie es vielleicht der Anblick einer bunten Postkarte ist, sondern … als Empfinden meiner selbst – achje, nein, vergiß es, wie das schon klingt, Empfinden meiner selbst.« Und damit brach er seinen Erklärungsversuch ab.
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Aus dem Romanmanuskript »Das verschlossene Kind«: 1. Kapitel:
An dem Tag vor mehr als 25 Jahren, an dem ich auf Geheiß des Obersten das erste Mal auf die Insel übersetzen sollte, fand ich zunächst den Fährmann nicht. Wie lange lief ich, die Insel im Blick, am Ufer auf und ab, ohne ihn zu entdecken? Ich weiß es nicht mehr. Ich weiß nur noch, daß überhaupt nichts auf einen Fährmann hindeutete. Da war kein Steg, da war buchstäblich keine einzige Bohle. Außerdem war die Strömung reißend. Das Wasser des an dieser Stelle vielleicht ein Kilometer breiten Flusses schoß in der Geschwindigkeit eines wilden Gebirgsbaches an mir vorbei. Ich zweifelte daran, daß ein einzelner Ruderer den Strom ausgerechnet hier würde queren können. Ich erinnerte mich, der Oberste hatte auch niemals von einem einzigen Ruderer gesprochen, sondern immer nur von dem Boot, offenlassend, wie viele Menschen nötig waren, es vorwärts zu treiben. Ich lief stromab, weg von der Insel, auf einen Hügel, denn ich hoffte, dort eine bessere Übersicht zu erlangen. Aber auch als ich ihn erklommen hatte, vermochte ich keine Anlegestelle zu entdecken. Ich sah nur, besser als je, die Insel. Sie wies die Form einer Walnuß auf, wobei ihre kurze Spitze auf mich zeigte. Innerhalb dieser Walnuß war ein hoher schwarzer, vermutlich geteerter Bretterzaun gezogen, welcher ein Dreieck
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