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Brüder und Schwestern

Brüder und Schwestern

Titel: Brüder und Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Meinhardt
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einen nicht ungelehrten Mann halte, war mir die Existenz eines solchen Bauwerks bis dahin unbekannt gewesen; und während der Mann, mit dem Gleichmut desjenigen, der seine Handgriffe schon tausendmal ausgeführt, für den Vortrieb des Einbaums sorgte, versuchte ich, darauf zu kommen, wie jener Bau inmitten des so rasch dahinfließenden Wassers hatte bewerkstelligt werden können. Ich fand jedoch keine Lösung und habe bis heute auch keine gefunden. Das einzige, was ich bei dieser Gelegenheit auf intensivere Art als je zuvor begriff, war die Tatsache, daß die finstersten und abscheulichsten Absichten zu den genialsten Erfindungen zu führen vermögen – und daß diese Erfindungen einem Unbescholtenen erst einmal genauso finster erscheinen wie die Idee, auf der sie beruhen. Mit anderen Worten, der ungewöhnliche Tunnel widerte mich mehr an, als daß er mich erstaunte oder gar bezauberte.
    Das stoßartige Gleiten mochte eine Viertelstunde gedauert haben. Es endete in vollkommener Dunkelheit mit einem leichten, knirschenden Aufprall. Sogleich streckte der Fährmann seine Stange in das Dunkel (ich bemerkte es, weil sie mich streifte). Eine Glocke ertönte, dunkel auch ihr Ton, eine Tür genau der Art, wie ich sie drüben unter dem Hügel gefunden, wurde lautlos aufgetan, und eine Wache winkte mich heraus. Ich war nun auf der Insel des Verdammten angelangt.
    Darum, das möchte ich betonen, habe ich mich nicht gerissen. Nicht einmal beworben habe ich mich. Man konnte sich damals nirgendwo bewerben, man wurde vom Obersten verpflichtet. Ich weiß nicht, wie er auf mich gekommen war. Vielleicht war mein Ruf nicht der schlechteste. Vielleicht war dem Obersten auch zugetragen worden, daß ich schon Antonios Eltern unterrichtet hatte, als diese jung gewesen waren, und es gehörte zu seinem perfiden Plan, nun für eine Wiederholung zu sorgen. Er, der Mörder von Antonios Eltern, stellt mich ein, damit ich Antonio, wie einst sie, mit Bildung versehe – und er danach auch Antonio ermorde? Nein, das ergab keinen Sinn. Er hätte Antonio doch schon lange töten können. Statt dessen hatte er ihn auf diese abgelegene Insel verbannt und mit der härtesten aller Strafen belegt: Antonio durfte nicht mit den Wachen reden, und die Wachen durften nur im Ausnahmefall das Wort an ihn richten. Sogar untereinander hatten sie in seinem Beisein stumm zu bleiben, so lautete die Anordnung des Obersten. Ich betete damals, beim Betreten der Insel, zu Gott, daß sie nicht befolgt wurde, daß sich die Wachen über all die Jahre menschlich gezeigt hatten. Aber andererseits, was heißt menschlich? Es ist menschlich, sich grausam zu verhalten, das habe ich zur Genüge erfahren, da mache ich mir nichts mehr vor. Es wird zuviel Gutes mit dem Begriff Mensch verbunden, das ist eine Tatsache; und deshalb glaube ich heute auch, es war einzig und allein eiskalte Lust, die den Obersten dazu brachte, mich, den Magister, zu Antonio zu schicken. Den Berichten der Wachen zufolge war aus Antonio ein stammelndes Etwas geworden, und diesem Etwas nun Bildung einzuflößen, das war ein Experiment, welches der Oberste mit Wonne zu verfolgen gedachte. Würde Antonio die Medizin brav schlucken oder wieder ausspeien? Und wenn er sie schluckte, würde sie ihm, dort in seiner Zelle, die er niemals verlassen durfte, zum Gleichmut verhelfen, oder würde sie ihn erst recht in den Irrsinn treiben? Ich gestehe, daß ich auf die Beantwortung dieser Fragen selber äußerst gespannt war. Und mehr noch, ich gestehe, bei allem Ekel, der mich auf der seltsamen Fahrt im Tunnel überkam, doch auch Vorfreude empfunden zu haben. Ja, auch ich empfand jene kalte Lust, wenngleich nicht in dem Ausmaß, wie ich sie dem Obersten zuschreibe, aber ich weiß nicht, ob ich deswegen ein viel besserer Mensch bin als er, denn wie gesagt, ich unterhielt Verbindungen zu Antonios Eltern, ich war ein alter Freund der Familie und hätte unter diesen Umständen nicht die geringste Lust spüren dürfen, sondern nur Barmherzigkeit, Wärme und Liebe für Antonio. Und doch spürte ich welche; jetzt, da ich meine Erinnerungen niederschreibe, bin ich so alt, es endlich zugeben zu können.
    Ich wurde zu Antonios Wachen geführt. Sie verbeugten sich unter ehrerbietiger Nennung meines Namens – »Herr Karandasch«, »Herr Karandasch« – und stellten sich selber als Gomus und Vestis vor. Sie glichen sich in Größe und Statur, nicht jedoch in ihren Gesichtern. Gomus’ Gesicht war ebenso ausdruckslos wie das des

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