Brüder und Schwestern
Stromreederei mehrmals beworben hatte, weil, so lautete seine Begründung, diese Stadt aufgrund ihrer bedeutsamen Geschichte ihn wie keine andere interessiere.
»Flachsblond. Ihr fallen immer die Haare über die Wangen, alle fünf Sekunden, und sie schiebt sie sich gedankenverloren immer wieder zurück. Auf einmal – auf einmal habe ich das für sie getan.«
»Du hast sie plötzlich angefaßt, vor allen anderen?«
»Ja. Es war mir egal, was die anderen denken, und ich war mir auch sicher, Lydia würde sich nicht erschrecken. Diese Handbewegung war für mich in diesem Moment das Natürlichste von der Welt.«
»Und sie hat sich tatsächlich nicht erschreckt?«
Kopfschütteln.
»Und habt ihr miteinander geschlafen?«
»Ja, aber nicht gleich. Obwohl mir gleich so war, und ihr auch, das habe ich gespürt. Sie wäre aber nicht an der Deschurnaja vorbeigekommen, an der Matrone, die im Hotel auf jeder Etage sitzt und wacht. Du glaubst nicht, wie streng es da zugeht. Sie, also Lydia, wohnt auch noch, oder wieder, bei ihren Eltern, sie mußte erst was organisieren in ihrem früheren Studentenwohnheim.«
»Und dann war es dort schön?
»Es war weich. Wir durften nicht laut sein, wegen der dünnen Wände in dem Wohnheim, du hörst da jedes Husten, und du kannst die Zimmer nicht abschließen. Im Grunde durften wir keinen Mucks sagen. Ja, und deshalb waren wir ganz behutsam miteinander. Alles geschah still und langsam, wie verzögert. Unsere Augen hielten wir offen. Wir waren lange ineinander, über eine Viertelstunde wohl, dann erst schloß Lydia ihre Augen. Sie hat große weiße russische Lider. Das glaubst du nicht, wie Lider einen anziehen können! Als ich sie darauf küßte, spürte ich ihre warmen runden Augäpfel. Ich saugte daran, ich grub meine Lippen in ihre Augenhöhlen, und in dem Moment, in dem ich das tat, saugte Lydia in sich drin an mir. Es war mir, als ob sie ihre Augen durch mich und sich hat hindurchfließen lassen.«
»Hui, hui, hui, was ist denn das für eine Erzählung, du schwärmst ja richtig«, sagte Britta, und das Schöne und Gute daran war, daß Matti sie wirklich beeindruckt und erfreut hatte und sie keinerlei Neid verspürte, er merkte es genau.
Sie gingen in Brittas Wagen. Britta schlüpfte in die rote Uniform mit den goldenen Schulterklappen und Schnüren, die sie am Einlaß tragen mußte, legte sich aber auch schon Cordhose und kariertes Hemd bereit, die schlabbrigen Sachen, in denen sie während der Vorstellung die Tiere von den Ställen zum Chapiteau und wieder zurück führen würde. In der Manege selber würde sie nicht auftauchen, wie Matti wußte. Sie jonglierte schon lange nicht mehr. Nach jenem dramatischen Abend, da sie von Devantier ins Rampenlicht gestoßen und von Marty mit Keulen attackiert worden war, hatte Britta die ganze Nacht kaum schlafen können, weil sie, ganz gegen ihre Natur, hin und her überlegte, was sie tun sollte: Weiter auftreten und sich am Applaus berauschen und Devantier brav nur um ein züchtigeres Kleid bitten und um die Erlaubnis, ihre Haare zu einem Zopf zu binden – oder ihm die Keulen vor die Füße werfen und sagen, das war’s, ich kann gar nicht richtig jonglieren, und ich werd’s auch nie richtig können, ich weiß es jetzt, und Sie wußten’s schon gestern, und schon immer wußten Sie’s, nicht wahr? also suchen Sie sich einen anderen, oder setzen Sie Marty wieder ein.
Ihr hatten auch noch Mattis Worte im Ohr geklungen: Der Mensch soll nicht etwas fortführen, von dem er im Grunde seines Herzens weiß, es bringt ihn nicht weiter. Ja, dachte sie, für Matti wäre die Entscheidung einfach. Matti war kompromißlos, Matti folgte immer seiner Idee, koste es, was es wolle. Aber kann in dieser Aufrichtigkeit und Klarheit nicht auch etwas Grausames liegen, etwas Grausames für andere? Man muß doch auch sehen, was es für die anderen bedeutet, die von der Entscheidung betroffen sind. Bereitet man ihnen Schwierigkeiten? Das muß man bedenken. Es ist doch nicht in Ordnung, andere in Probleme zu stürzen, nur damit man selber eine gute Meinung von sich behalten kann. Das ist eigentlich sogar – egoistisch.
Bei diesem Gedanken war Britta ziemlich unwohl gewesen, und sie hatte sich gezwungen, schnell auf ihr eigentliches Problem zurückzukommen: Nehmen wir an, ich kündige Devantier sofort die Jonglage – was soll er dann tun? Jetzt, mitten in der Saison, findet er keinen Ersatz. Marty aber kann er nach dessen gestrigem Auftritt, und damit meine ich
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