Brüder und Schwestern
schickte Erik voraus, er wollte den Boden bereiten, wollte sich vielleicht selber in Sicherheit reden, er fragte auch noch, ob er sich setzen dürfe.
Da konnte Kutzmutz, wenn er kein Kotzbrocken sein wollte, schlecht nein sagen.
Seine Unterarme auf die Oberschenkel gestützt, seine Finger ineinander verschränkt, eine Ausgeburt an Konzentration, trug Erik seine Gedanken vor. Die Miene seines Vorgesetzten blieb aber erstaunlich reglos, konnte der mit seiner Idee nichts anfangen? Erik disponierte ein wenig um und endete nicht wie geplant mit einem triumphalen Satz, sondern mit einem kleinen, feinen Überredungsversuch: »Ich weiß, mein Einfall mag im ersten Moment vielleicht etwas ungewöhnlich klingen. Vielleicht scheint er Ihnen sogar fehl am Platze. Die von mir angedachte Werbung würde ja, bildlich gesprochen, aus der Mauer sprießen, und die Mauer hat natürlich eine ganz andere und bekanntermaßen viel wichtigere Funktion. Aber warum eigentlich nicht solch eine zusätzliche Nutzung? Ich möchte die Mauer im vorliegenden, ich betone, nur im vorliegenden Fall vergleichen mit der Wiese, auf der die berühmte Milka-Kuh grast. Diese Fläche bleibt ja auch während des Grasens durchaus immer, was sie ist, nämlich eine Wiese, nur daß der Bauer, dem sie gehört, dank ihrer Existenz Geld einnimmt, einen ordentlichen Batzen, wie man doch vermuten darf, und so ähnlich wäre …«
»Schon verstanden, schon verstanden«, unterbrach ihn Kutzmutz. Auf einmal war der Vorgesetzte wie verwandelt. Er sprang auf, lief umher und erklärte jovial: »Der Gedanke ist so naheliegend, daß ich mich schon die ganze Zeit frage, warum bis jetzt noch niemand darauf gekommen ist. Alles wäre auch relativ einfach umzusetzen. Es müßte nur mal jemand rüber, um die Mauer abzufahren und zu gucken, welche Gebäude sich eignen würden. Einmal vom Blick her, und dann natürlich auch in bezug auf ihre bauliche Substanz, denn sie hätten ja schwere Plakate zu halten und dürften nicht gleich wegbröckeln. Vielleicht müßte die ganze Statik untersucht werden.«
Das ging aber schon ins Detail, das hörte sich aber gut an. Erik war drauf und dran, sich selbst zu gratulieren, da fuhr Kutzmutz, nicht ohne Vertraulichkeit, fort: »Dies ist aber leider nur die rein praktische Seite. Vergessen wir nicht die vorgeschalteten Instanzen. Wer würde da nicht alles mitreden wollen! Dutzende Bereiche würden tangiert, Verteidigungsministerium, Außenhandelsministerium, Innenministerium, Wirtschaftsministerium – und am Ende, am Ende würde sowieso wieder E. H. persönlich entscheiden müssen, weil kein anderer sich traut, das kennt man doch zur Genüge.«
Kutzmutz winkte ab, Kutzmutz ließ stark daran zweifeln, daß er gewillt war, diesen überaus steinigen Weg zu beschreiten.
Immerhin, seine Grüße waren von nun an für Erik wieder als solche erkennbar, wenigstens etwas …
*
Und endlich strampelte das Kind zu Hause. Erik beugte sich über die Krippe, nahm Wiktors Patschhändchen, fuhr damit die noch frische Wulst unter seinem Kinn entlang, sagte im höchsten, aber auch sanftesten ihm zur Verfügung stehenden Tonfall: »Ja die ist mit dir gekommen, du kleiner süßer Wicht du, es ist unsere Verbindung, fühl mal, hier, siehst …«
»Wah-wah-wah …«
»… siehst du, aber ja, unser kleines Nabelschnürchen, und niemand kann’s wegschneiden, na da, na da, festgewachsen, ja wah-wah-wah …«
Blut ist im Schnee
Der Prozeß, in dessen Verlauf ein Mensch an Kraft und Ausdruck verliert und schließlich sogar verfällt, ist meistens ein schleichender; und wer mit so einem Menschen täglich Umgang hat, wird die Veränderungen in seinem Gesicht und an seinem Körper, in seinen Gesten und Worten kaum bemerken. Wer ihn hingegen nur in Abständen trifft, sieht viel klarer. Auf einmal ist da ein bitterer Zug um den Mund, ein resignierender Ton in der Rede, eine tiefe Beugung im Rücken …
Willy war ja auf Veronika Gapp geflogen, weil er bei ihr das Ursprüngliche und Unverstellte ausleben konnte, das ihn in seiner Jugend ausgezeichnet hatte. In wahren Kraftschüben war er jeden zweiten Dienstag über sie gekommen, und währenddessen war es ihm tatsächlich gelungen, alles zu vergessen, was sein sonstiges Dasein bestimmte, das Taktieren bei Zeiller, das Engpaßverwalten im »Aufbruch«, die lähmende Zweisamkeit mit Ruth. Im Grunde führte er zwei Leben: das streng geheime, einigermaßen riskante und für ihn gerade deshalb gesunde in der Dunckerstraße
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