Brüder und Schwestern
den Blick. Er ahnte, warum Erik so in Fahrt geraten war und Willy attackiert hatte: Weil Erik natürlich nicht entgangen sein konnte, daß er von dem Tag an, da er im Familienkreis seine Leipziger Unterschrift gebeichtet hatte, von Willy weniger respektvoll behandelt wurde als Matti. Nie wieder war dieses Ereignis bei ihnen zur Sprache gekommen, und doch wirkte es nach, Matti bemerkte es an Kleinigkeiten. Wenn, zum Beispiel, Willy einmal von Problemen im »Aufbruch« erzählte, blickte er viel häufiger ihn an als Erik, und er ging dann auf Eriks Bemerkungen auch viel weniger ernsthaft ein als auf seine, Mattis. Das alles waren, wie gesagt, nicht mehr als Blicke und Gesten gewesen, aber an Erik mußten sie doch sehr genagt haben, und jetzt – jetzt war die Stunde gekommen, in der sich die Verhältnisse umkehrten, die Stunde, in der ein viel schlimmeres Ereignis aufgearbeitet werden mußte, die Stunde, in der Erik sich frei von Schuld fühlen durfte, die Stunde, in der etwas lange Angestautes aus ihm herausbrach: sein Zorn über die Behandlung, die er von Willy die ganze Zeit erfahren hatte.
»Mit welchem Recht behauptest du, es wäre nicht statthaft, das heute zur Sprache zu bringen?« rief Erik. Er war so empört, daß seine Lippen vibrierten. »Was hat denn dein Verheimlichen gebracht, was? Ruths Tod im Endeffekt …«
»Das ist ja der blanke Unsinn!« schrie Willy. »Du hast ja keine Ahnung!«
Täuschte es, oder blickte er hilfesuchend zu Matti? Der war aber, was jene gerade ausgestoßenen Vorwürfe betraf, gar nicht mal uneins mit Erik, so schwieg er und sprang Willy nicht zur Seite.
»Falsch, ich hatte keine Ahnung. Wir alle«, Erik wies mit einer wütenden Armbewegung auf seine Geschwister, »wir alle hatten keine Ahnung, bis vor ein paar Minuten. Und das ist es ja eben! Wenn wir rechtzeitig informiert worden wären, hätten wir auf Ruth einwirken können. Bestimmt hätten wir ihr helfen können. Sie hat uns geliebt! Auf uns hätte sie gehört, wir hätten sie zurückgehalten …«
Willy dachte an die geheime Passage in Ruths Brief, die Erik eines Besseren belehrt hätte, und schnaubte verächtlich.
Da schlug Erik mit der Faust auf den Tisch. »Wie du in Wahrheit mit Ruth umgesprungen bist«, schleuderte er Willy entgegen, »das kann ich mir schon denken, das ist mir in dieser Sekunde klar. Genauso kalt und abweisend wie mit mir, denn auch sie war dir peinlich, nicht wahr, auch sie hat deinen Erwartungen nicht mehr entsprochen, nicht wahr? Nicht wahr?« Er rüttelte rabiat an Willys Arm.
Aber jetzt stieß Britta einen erstickten Schrei aus, dem ein hemmungsloses Weinen folgte. Ihr gesamter Körper wurde davon geschüttelt. Nach vielleicht einer halben Minute, in der die Männer ihr hilflos und stumm zugeschaut hatten, stammelte sie: »Nein … so geht es nicht weiter, was macht ihr denn … zerfleischt euch doch nicht, denkt doch an Ruth, das tut ihr nicht … wenn ihr an sie denken würdet, würdet ihr euch jetzt nicht so … ach bitte«, sie sprang plötzlich auf, trat hinter Matti, neben dem sie gesessen hatte, und umschlang und liebkoste ihn wie versessen, sie stürmte weiter zu Willy an die Stirnseite des Tisches und vollführte dasselbe mit ihm, und stürmte endlich zu Erik, den sie noch länger umarmte als die anderen beiden, den sie gar nicht mehr freigeben wollte, wohl weil sie meinte, er habe das nötig, vielleicht aber auch nur, weil er der Letzte in der Reihenfolge war und sie selber nicht aufhören konnte.
»Du hast recht«, sagte Erik betreten, nachdem sie von ihm abgelassen hatte. »Ruth ist tot, da sollten wir zuammenhalten.« Mit seinem Tonfall, und überhaupt mit seinem sofortigen Einlenken, nahm er seinem kurz zuvor erfolgten Ausbruch die allerbedrohlichste Wirkung.
Willy sagte nichts, aber jeder konnte sehen, daß ihm angesichts des Flehens seiner Tochter noch einmal die Augen feucht wurden. Wie sehr er Britta liebte! Für ihre Unverstelltheit. Für ihre Entschlußfreudigkeit. Für ihre Gutherzigkeit. Aber gab es nicht noch einen zweiten Grund für Willys Reaktion? Eine ordentliche Erleichterung breitete sich in ihm aus, über nichts anderes als darüber, daß die ganze Debatte nun wohl ein Ende hatte und er halbwegs ungeschoren davongekommen war. Britta mit ihrer plötzlichen Beschwörung hat mich gerettet, dachte er dankbar, wer weiß, wo Erik mich sonst noch hingetrieben hätte.
Lange blieb es still im Raum, dann sagte Britta so leise, daß sie kaum zu verstehen war: »Wenn sie
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