Brüder und Schwestern
den Mund, viel mehr Zeit blieb ihm auch nicht, denn schon erschien Bernhard wieder.
Sie begannen zu essen, und nun erwies es sich erstaunlicherweise als Segen, daß Erik, Matti und Britta fast nichts über ihren Onkel wußten. Das letzte Mal, da er sie für ein paar Tage in Gerberstedt besucht hatte, waren sie ja noch sehr jung gewesen, und später hatte Willy kein Wort mehr über ihn verloren, so fragten sie Bernhard jetzt dies und das; Willy hatte keine Ahnung, ob sie es nur um des lieben Friedens willen taten oder auch aus echtem Interesse, einerlei, ich habe doch große kluge Kinder, dachte er bei sich.
Wie er eigentlich nach Bayern gekommen sei, wollte Erik wissen, da erzählte Bernhard von dem Schuß in seine Wange, »hier«, er deutete auf die Narbe, »ist die Kugel rein, und hier«, er öffnete seinen Mund, »ist sie wieder raus«.
»Da hast du noch Glück gehabt«, sagte Matti.
»Da hab ich noch Glück gehabt«, sagte Bernhard, »in mehrfacher Hinsicht, denn ich bin nach Bayern ins Lazarett gekommen, und da war die Annegret Schwester, die jetzt meine Frau ist. Die war vielleicht begehrt, sag ich euch, wahre Kämpfe liefen um die Annegret ab.«
Willy ging auf Toilette und blieb dort eine Weile, denn er kannte die Geschichte, die nun folgen würde, schon zur Genüge. Außerdem mißfiel ihm, was ihm doch auch hätte gefallen können: daß Bernhard um so weniger bockte und um so eifriger erzählte, je mehr er gefragt wurde.
»Ich war der Favorit von der Annegret, das war schnell jedem im Lazarett klar, aber nicht jeder konnte das sportlich nehmen. Da ist also eines Tages einer, dem es das Knie zerschmettert hatte, an mein Bett gekommen und hat mit dem Ende seines Krückstocks auf meine Wunde gedrückt – damals war das noch die reinste Wunde. Der hat einfach durch die dünne Fleischmembran durchgestochen. Erst hab ich geschrien wie am Spieß, dann hab ich den Krückstock rausgezogen und den Kerl gepackt …«
»Ja, und dann bist du gleich dageblieben bei der Annegret?« fragte Britta.
»Nicht gleich, erstmal bin ich zurück, darum bin ich so gut mit der Ruth bekannt geworden. Aber unten in Bayern war ein Gasthof, der bewirtschaftet werden mußte, schon ewig im Besitz der Familie von der Annegret war der, also bin ich bald wieder hin.«
Und wie heiße denn der Gasthof, und gehöre der jetzt ihm, und noch dies und das wollte man von dem Onkel wissen, es war ein halbwegs munteres Gespräch, in dem Bernhard seinen Neffen und seiner Nichte auch die eine oder andere Frage stellte, nur daß er und Willy die ganze Zeit vermieden, sich anzublicken, und die Geschwister das genau merkten und sich dachten, der war lange nicht hier, der Bernhard, und der wird so schnell auch nicht wiederkommen, und daß er so schnell nicht wiederkommen wird, wird dem Willy nur recht sein.
*
Am nächsten Morgen hatten sich viel mehr Menschen auf dem Friedhof versammelt, als eingeladen worden waren, bestimmt drei Dutzend. Darunter war fast die gesamte Belegschaft der Sparkasse und auch der eine oder andere Kunde, mit dem Ruth über Jahre zu tun gehabt hatte. Willy fand diesen Zulauf erstaunlich, war denn von ihm etwa eine Anzeige in die Zeitung gesetzt worden? Jedoch wollte es ihm einfach nicht gelingen, sich über die unverhoffte Anteilnahme zu freuen, im Gegenteil, die Masse der Trauernden betrübte und erschreckte ihn. Schwarz und ernst und murmelnd, wie ein sich gerade formierender mächtiger Chor, so erschien sie ihm. Alle diese Leute haben Ruth also geschätzt und gemocht! So beliebt ist sie also gewesen! Ihn überkam das Bedürfnis, sie noch einmal, wie ganz am Anfang, schätzen, mögen und vor allem lieben zu können, aber zugleich, während diese Sehnsucht ihn überkam, spürte er schon, sie galt nicht eigentlich Ruth. Sie entsprang nur dem Anblick all dieser fremden Menschen hier. Willy fühlte sich hart und kalt im Vergleich zu ihnen. Daß er seiner Frau gegenüber weniger empfand, als sie alle hier wahrscheinlich empfanden – was für ein Jammer. Er meinte auch, seine Gäste würden ihm jene Lieblosigkeit genau ansehen, und mehr noch, seine jahrelange Affäre sei ebenfalls sichtbar für sie, und daß er ein Kind gezeugt hatte nicht mit Ruth, und daß Ruth gerade deswegen nun nicht mehr war, alles, meinte er, müsse ablesbar sein an seinem Gesicht, er bekam es mit der Angst, der Chor werde zusammenrücken und anheben zu singen, werde in einer wogenden Bewegung, mit ausgestreckten Armen, vorgestellten Beinen und
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