Brüder und Schwestern
fragte nach: »Davon hast du wohl nichts gewußt?«
Wieder stöhnte Bernhard und schüttelte den Kopf.
Willy wollte sagen, richtig, du warst ja nicht da an Rudis letzten Tagen, als das zur Sprache gekommen ist, aber er ließ es bleiben, weil er ahnte, Bernhard würde es als Vorwurf auffassen. Und er schwieg noch aus einem anderen Grund. Er wollte Bernhard nicht reizen, denn er befürchtete, der Bruder mit seiner Lebenserfahrung werde ganz anders als die Kinder in ihn dringen und danach forschen, was noch eine Ursache gewesen sein könnte für Ruths Tod. Er dachte auch daran, Bernhard reinen Wein einzuschenken. Freilich verwarf er diese Idee sofort wieder. Wo sollte er da anfangen, was müßte er nicht alles erzählen! Bernhard wußte doch gar nichts mehr von ihm, nach den Jahrzehnten, die sie schon getrennt waren.
Der Bruder reagierte aber anders als vermutet. Er stellte nicht eine Nachfrage, sondern begann, auf »die Russen« zu schimpfen; das sei ja bekannt, wie und mit welchen Folgen die gewütet hätten, nun habe also die eigene Schwägerin wegen ihnen noch ins Gras beißen müssen, die eigene Schwägerin.
Willy ließ ein Brummen ertönen, aus Erleichterung, daß Bernhard die ganze Wahrheit garantiert nie aufdecken würde, aber zugleich auch, weil sich in ihm Widerspruch regte.
»Jawohl«, rief Bernhard, »die Russen haben Ruth erwischt, und wir haben es heute auszubaden!«
»Was heißt die Russen …«, wandte Willy zaghaft ein. Klar und deutlich hatte er seinen Anteil an Ruths Tod im Kopf, um so simpler erschien ihm Bernhards Anwurf.
»Waren’s vielleicht nicht die Russen? Aber ich weiß schon, ich weiß, bei euch muß das ja verschwiegen werden, da sind die Russen immer nur die Guten, die euch befreit haben.«
Willy konnte sich nicht enthalten zu sagen: »Erstens waren es nicht die Russen , damit geht’s schonmal los. Wenn schon, waren’s die Sowjets …«
»Was heißt hier: wenn schon«, warf Bernhard ein, »du willst es doch nicht anzweifeln, obwohl es deine eigene Frau betrifft!«
»Ich zweifle es überhaupt nicht an, es ist geschehen, und es ist schlimm. Es ist auch nicht gut, daß es hier offiziell verschwiegen wird. Aber genauso ungut ist, daß du die Russen scheinbar nur damit in Verbindung bringst. So redest du jedenfalls! Sie haben im übrigen nicht nur uns befreit, sondern genauso euch. Sie hatten ein paar Millionen mehr Tote als die Westmächte zusammen, als eure großartigen Westmächte, die viel zu spät anmarschiert gekommen sind und denen ihr jetzt in den Arsch kriecht.«
»Das ist ja die allerunterste Schublade! Deine Frau ist tot, und du käust Staatspropaganda wieder!«
»Ich wehre mich nur gegen die Propaganda, die du wiederkäust.«
»Das ist keine Propaganda, sondern das ist die Wahrheit. Die ihr, ich wiederhole mich, verschweigt.«
Willy schüttelte hilflos den Kopf.
»Da brauchst du gar nicht den Kopf zu schütteln, du – du Versöhnler! Schon bei Rudis Trauerfeier warst du versöhnlerisch, und jetzt bist du es noch viel mehr.«
Bei diesem Stichwort, Trauerfeier, spürte Willy auf einmal etwas Seltsames und nie für möglich Gehaltenes, er spürte eine große Nähe zu Herbert Rabe, er sah sich im nachhinein an den heranrücken in der »Sonne«, nur wegen Bernhards ständigem selbstgerechten Attackieren.
Willy kam aber nicht dazu, sein Gefühl in Worte zu fassen, denn die Tür ging auf, und mit ernsten Mienen traten die Geschwister ein. Sie brachten den dampfenden Leberkäs, wie gut, daß sie mit dem einschreiten konnten, Willy und Bernhard waren doch immer lauter geworden.
Die beiden Streithähne verfolgten stumm, wie das Essen aufgetragen wurde. Als dann alles an seinem Platz stand und noch immer eine peinliche Stille herrschte, sagte Erik zum Onkel, der Leberkäs müsse wohl noch geschnitten werden, ob Bernhard das selber erledigen wolle?
Und Bernhard schnitt recht verbissen und tat jedem eine Scheibe auf den Teller, er schaute sich auf dem Tisch um, konnte irgend etwas nicht entdecken und sagte schließlich: »Da muß jetzt eigentlich der süße Senf drauf, habt ihr den nicht aus der Tasche geholt?«
Die Geschwister, die Leberkäs, Salat und Brezn in Bernhards Tasche sofort gefunden hatten, zeigten sich irritiert; von süßem Senf war, so weit sie sich erinnerten, am Anfang gar nicht die Rede gewesen, nach dem hatten sie gar nicht geschaut.
Da ging Bernhard in den Flur, um den Senf zu holen. Derweil sahen die Geschwister fragend zu Willy. Aber Willy verzog nur
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