Brüder und Schwestern
aufgerissenen Mäulern, ihm seine Vergehen vorhalten, er wußte nichts, und wieder nichts, und noch einmal nichts zu sagen zu einzelnen, die aus der vorerst noch wispernden Masse sich lösten, um ihm die Hand zu schütteln. Geisterhaft schnell traten sie dann wieder von ihm weg, eben weil er ganz steif und stumm blieb ihnen gegenüber.
Willy war heilfroh, als die Trauerfeier vorüber war und er an der Seite Marieluises, ausgerechnet neben der, den unebenen Weg runter in die Stadt, in Richtung »Sonne« gehen konnte. Instinktiv hatte er Marieluises Nähe gesucht. Weil sie als einzige außer dem konkurrenzlosen Achim von seinen Schandtaten wußte. Weil er vor ihr nichts mehr verbergen mußte. Er fühlte sich erleichtert neben ihr, bat sie sogar, sie möge sich bei ihm unterhaken, und weiß Gott, sie schlug es ihm nicht ab, sie strafte ihn nicht länger.
In der »Sonne« saß man in dem zuvor beschlossenen allerkleinsten Kreis, nur daß wie selbstverständlich Catherine ihn erweiterte, die extra aus Berlin angereist war, um sich gemeinsam mit ihrer Mutter von Ruth zu verabschieden; denn Ruth hatte sie einst auf dem Schoß gehabt, hatte für sie auch immer mitgekocht, wenn Marieluise mal wieder plötzlich zum Hausbesuch gerufen worden war, jawohl, wie eine zweite Mutter war Ruth zu ihr gewesen, und deswegen zeigte sich Catherine heute hier, deswegen setzte sie mal kurz aus mit dem Büffeln für ihr Examen.
Aber hatte sie Marieluise nach ihrer Ankunft nicht erklärt, sie müsse vom Friedhof direkt wieder zum Bahnhof und zurück nach Berlin, um ihren Kopf schnell wieder in die Bücher stecken zu können? Warum hatte sie denn den Zug sausen lassen? Wodurch war sie veranlaßt worden zur Verletzung ihrer selbst auferlegten, also heiligen Pflichten?
Durch eine schlichte Umarmung unmittelbar vor der Trauerfeier – durch eine Umarmung, die auf Außenstehende schlicht gewirkt haben mochte.
Sie, Catherine dort am Friedhofstor: Natürlich begrüßt sie zuerst Britta, ihre immerste Freundin, Tränen fließen; und Jahre sind vergangen, drei oder vier, in denen sie Matti nicht begegnet ist, sie drückt sich scheu an ihn, umfaßt mit ihren Händen seine Schultern, es ist Winter, und dicke Kleider umhüllen ihr den Körper, aber seltsam, Catherine spürt, als wäre da nur dünner, fadenscheiniger Stoff, auf einmal Mattis Hände knapp unter ihren Schulterblättern, nicht daß er fest zudrücken oder gar sie zu sich heranziehen würde, überhaupt nicht ist das der Fall, und auch sie drückt und zieht ja nicht, beide stehen in vorsichtiger Berührung, in tiefer Trauer, wie die Umstehenden wohl annehmen, Catherine selber aber schon nicht mehr glauben mag, denn in der tiefen Trauer und vor allem in dem grausligen Winter, da wird doch aller Erfahrung nach der Körper kalt und fühllos, da fängt er doch nicht plötzlich an zu glühen wie eine hochgedrehte Heizung.
Catherine war dann auf dem abschüssigen geröllhaltigen Weg wie zufällig neben Matti gelaufen. Einmal bei einem Schritt passte sie nicht auf und trat auf einen scharfkantigen Stein. Notwendigerweise hielt sie sich an Matti fest. Er spannte blitzschnell den Oberarm, und sie lockerte daraufhin ihren Griff, sie stand ja wieder sicher. Doch lagen nicht noch fürchterlich viele spitze Brocken vor ihr? Catherine wollte Matti mal lieber nicht loslassen. Sie hakte sich bei ihm unter, schaute ihn dabei fragend von der Seite an. Matti nickte, und sie liefen weiter. Manchmal, wenn der Weg besonders holprig war, drückte Catherines Arm gegen den Mattis, der wiederum seinen Arm unwillkürlich zu sich zog, und damit Catherine. Mit anderen Worten, das Gehen erforderte ihrer beider ganze Aufmerksamkeit. Darum redeten sie nicht. Seltsam war das eigentlich, denn man erinnere sich, Jahre hatten sie einander nicht gesehen, da darf man doch wohl erwarten, daß ein paar Worte gewechselt werden. Aber diese zwei? Kein einziges Wort bisher. Catherine zumindest vermißte nichts, sie spürte das Summen eines bisher ungekannten Einklangs. Es gab für sie nichts Natürlicheres, als jetzt wortlos mit Matti über das Geröll zu gehen. Freilich war da ein geringfügiges Problem, sie wußte gar nicht genau, ob er das alles auch so empfand.
Britta, die mit Erik, Carla, Bernhard und Achim Felgentreu hinter ihnen lief und das Festhalten und Unterhaken genau verfolgt hatte, kam der Gedanke, die beiden könnten nun doch noch zusammenfinden; wie sie da so gingen als Paar, das war doch schön und natürlich
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