Brüder und Schwestern
Töne. Erst recht Töne. Vestis, bei Strafe unseres Untergangs, wir müssen verhindern …«
In diesem Moment waren wir, obgleich wir unsere Schritte immer mehr verlangsamt hatten, schon an der Zellentür angelangt. Am anderen Ende des Ganges hatten sich breitbeinig die Wachen aufgepflanzt. Reglos und stumm zwangen sie uns, die Tür zu öffnen.
*
Gomus sprang von seiner Pritsche, dazu raffte er sich sonst nie auf. Offensichtlich war er gespannt, ob ich wie geheißen die Fibel bei mir führte. Und seine Nervosität, sie übertrug sich im Nu auf Antonio. Der Junge spürte, etwas mußte im Schwange sein. Mit jenem verschreckten Blick, den er nur in den ersten Tagen unserer Bekanntschaft gehabt hatte, sah er mir entgegen. Ich schenkte ihm ein vielleicht etwas zu fröhliches Nicken, holte die Fibel aus dem Tornister und hielt sie Gomus vor die Nase. Worauf Gomus, dieser Gefangene seines Stumpfsinns, sich sogleich wieder auf die Pritsche plumpsen ließ. Nun legte ich das Buch mit dem Maß an Zärtlichkeit, das einem Widerstrebenden zur Verfügung steht, vor Antonio auf den Tisch. Ich tippte, meinen Handballen aufgestützt, mehrmals mit dem Zeigefinger darauf und sagte: »Heute, Antonio, ist wieder einmal ein Tag, an dem in deinem Leben eine Veränderung eintritt. Erst bin ich gekommen und habe nur so nach dir geschaut, nicht wahr? Dann haben wir jeden Tag ein bißchen geplaudert. Wie von selbst hast du dabei recht ordentlich sprechen gelernt, wir können beide stolz sein, wie das gegangen ist, stimmt’s Vestis? Siehst du, Vestis hat es verfolgt und kann es bestätigen. Und nun, nun wird es langsam Zeit, den nächsten Schritt zu vollziehen. Plaudern ist nicht schlecht, Plaudern macht Spaß, aber noch mehr Spaß macht es, auch Lesen und Schreiben zu lernen. Dazu, Antonio, habe ich dir diese Fibel hier mitgebracht. Mit deren Hilfe wollen wir das erledigen. Es ist übrigens genau das Lesebuch, das ich dir vor einiger Zeit schon einmal angekündigt habe, erinnerst du dich?«
Antonio nickte, so daß sein steifer, clownesk gekräuselter Kragen in seine papyrusweißen herunterhängenden Wangen schnitt und sie mit Zackenmustern versah. Aber es war ein Nicken mit Vorbehalt. Zudem tat er etwas, das mich zutiefst verblüffte, mehr noch verblüffte als jede seiner früheren unerwarteten Handlungen. Er warf einen prüfenden, wie erwachsenen Blick auf den im Liegen unverwandt an die Decke starrenden Gomus, und als er überzeugt war, dieser döse, beugte er sich schnell zu mir und flüsterte verschwörerisch: »Sie selber mißäugen es aber!«
»Mißäugen? Du meinst das Buch?«
Antonio nickte abermals. In seinen Augen las ich die unverhohlene Bitte, mich zu erklären. Er barmte geradezu darum. Er vertraute mir vollkommen.
In mir kämpften die widerstreitendsten Gefühle. Welch Scharfsinn sich soeben bei Antonio gezeigt hatte, jubilierte ich, und welch Menschenkenntnis! Oh, er hatte genau gespürt, daß ich mich verstellte. Und ebenso genau hatte er gespürt, daß Gomus seine Bemerkung nicht hören durfte. Am erstaunlichsten aber fand ich, wie er sich ausgedrückt hatte. Mißäugen, solch ein Wort gab es gar nicht! Blitzschnell mußte er es geformt haben, weil meine Augen ihm, Antonio, meine Fröhlichkeit als aufgesetzt entlarvt hatten. Und wie schlüssig und treffend war und ist seine Erfindung: Sie benennt, was nicht ganz ein Mißtrauen und nicht ganz ein Beäugen ist, sie bezeichnet das Dazwischenliegende; jenes Mißäugen fand gerade hier in diesem Reich jeden Tag tausendfach statt und hatte doch noch nicht Eingang in unsere Sprache gefunden, ein notwendiges, ein geradezu überfälliges und, nebenbei bemerkt, auch noch poetisches Wort. Nun war es da, ausgerechnet dank Antonio. Ausgerechnet? Je länger ich über diese Verbindung nachdachte, um so logischer erschien sie mir. War Antonio nicht sogar besonders geeignet, neue Wörter hervorzubringen? Da war noch eine Menge Platz in seinem, und nur in seinem Hirn. Da war, anders als bei den Millionen von klein auf Belehrten und Geschulten, noch nicht jeder Quadratzentimeter vollgestellt mit Begriffen, er durfte und konnte selber welche finden für Dinge und Verhaltensweisen, die er entdeckte, er war, was das anging, freier als jeder andere. Wenigstens etwas, wofür die Insel gut war! Ich lachte ihm zu und fuhr ihm in meiner Freude mehrmals mit der Hand durchs Haar.
Und das war zugleich eine traurige, melancholische Geste. Mir war vollkommen klar, daß ich Antonios nahezu
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