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Brüder und Schwestern

Brüder und Schwestern

Titel: Brüder und Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Meinhardt
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flehentliche Bitte, ich möge ihn über meine Haltung zu der Fibel aufklären, nicht erfüllen durfte. Denn was geschähe, wenn ich ihm gestünde, das Buch tatsächlich abzulehnen? Er würde sich gleichfalls dagegen sperren. Dadurch würde er auch das für ihn Umgeschriebene von sich weisen. Es war ja nun Teil des Buches. Es war der Unterrichtsstoff, von dem nichts weniger abhing als Antonios gesamte weitere Entwicklung. Kurzum, mit Ehrlichkeit war in diesem Moment überhaupt nichts gewonnen. So schwer es mir fiel, ich mußte den Jungen belügen. »Du täuschst dich, Antonio«, flüsterte ich zurück, »ich mißäuge nichts. Dieses Buch hier«, ich tippte noch einmal, und zwar recht kräftig, mit dem Finger darauf, »ist beinahe wie von mir selber verfaßt. Alles in Ordnung damit. Ich verbürge mich dafür.«
    War es das Tippen? Jedenfalls schnellte Gomus hoch und rief: »Ihr seid für mich nicht zu verstehen! Hier wird nicht geflüstert, verdammte Bande. Laut reden!«
    »Nun denn«, sagte ich möglichst gleichmütig. In Wahrheit schlug mir das Herz gewaltig. Im von mir vorhergesehenen Ablauf waren wir nämlich an einem Punkt angelangt, den ich mit Vestis nicht mehr hatte besprechen können – an einem gerade deswegen gefährlichen Punkt. Ich mußte, jetzt gab es kein Zurück mehr, den eigenmächtig veränderten Text vortragen, von dem der Oberste auf keinen Fall erfahren durfte; das rostige Rohr jedoch, das Sprachrohr zu ihm hin womöglich, war noch immer offen. »Nun denn«, wiederholte ich in meiner Not. Dabei versuchte ich, Vestis mit wandernden Pupillen den Weg zum Rohr zu weisen. Und tatsächlich, er begriff, er ging dorthin. Er wartete auf weitere Anweisungen. Ich holte mein Taschentuch hervor und schneuzte mich. Verstand Vestis? Auch das verstand er! Doch unglücklicherweise besaß er kein Taschentuch, durch ein kaum merkliches Kopfschütteln zeigte er es mir an. Ich ließ das meine fallen. Zugleich rief ich in Richtung der Pritsche: »Also, Gomus, horch mal, das erste Stück hier handelt von Affen, da ist es vielleicht was für dich.« Es war mit Absicht beleidigend gesprochen, denn es sollte ihn beschäftigen. Und das tat es auch, wenngleich Gomus die Beleidigung wohl nur ahnte. Irgendwo in seinen Gehirnwindungen, so konnte ich aus seiner angestrengten Miene lesen, war sie steckengeblieben, ein ihn störender Klumpen. Eine Weile hatte er gut damit zu tun, den wegzubekommen. Indessen bückte sich Vestis. Schon hielt er das Taschentuch in seiner Faust. Er trat mit dem Rücken vor das Rohr, ertastete es und stopfte mein Tuch, das im übrigen weiß war, mit flinken Fingern hinein, so tief, daß es im Dunkel verschwand. Und nun endlich, als ich davon ausgehen durfte, es würden keine Töne mehr durch das Rohr dringen, begann ich laut und vernehmlich zu lesen; und nachdem ich am Schluß des kleinen Affenstückes angelangt war, begann ich auch gleich noch, die ersten Buchstaben aus den Worten herauslösen, ich zeigte sie einzeln her und hieß Antonio, sie nachzumalen, die ersten von sechsundzwanzig …
    Wohl wegen des leisen und anheimelnden Federkritzelns geschah es, daß Gomus einschlief. Sein regelmäßiger pfeifender Atem zeigte es an. Da huschte ein verschmitztes Lächeln über Antonios Gesicht. Er ließ die Feder ruhen, beugte sich wieder verschwörerisch zu mir und fragte: »Warum ist dein Schnupfenlappen in dem Rohr?« Ich schaute reflexartig zu dem Stummel und fragte überrascht zurück: »Du hast es gesehen?«
    Antonio antwortete nicht. Es schien mir Enttäuschung, aber auch eine Art Herausforderung in seinem Blick zu liegen, den er fortgesetzt auf mich heftete. Oh, es beleidigte ihn, daß ich annahm, er habe nichts bemerkt. Sein Gesichtsausdruck aber, wie war er mir vertraut! Genau so hatte Meta immer geschaut, wenn sie sich von jemandem mißachtet fühlte. Dieser Jemand wiederum, das war oft genug Salo gewesen. Einmal, kurz vor Antonios Geburt, wurde ich Zeuge, wie er ihr mitteilte, er habe schon eine Amme verpflichtet, sie stünde jederzeit bereit. Meta erstarrte auf der Stelle. Traurig und vor allem stolz sah sie Salo an. Ich, der ich beiden als väterlicher Vertrauter galt und deshalb auch in heiklen Situationen von ihnen nicht weggeschickt wurde, wußte längst, daß in diesem Blick für Salo ein viel größerer Widerstand lag als in jeder erregten Erwiderung. Er fühlte sich nun veranlaßt, ihr lauter fürsorgliche Fragen zu stellen, die er sich selber beantworten mußte, und am Ende stand er,

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