Brüder und Schwestern
verdient nur Sanftmut, in den nächsten Stunden mehr denn je.«
Ich spürte, wie ich errötete. Gerade weil er den Nagel auf den Kopf getroffen hatte, fragte ich wie blöde: »In welcher Verfassung befinde ich mich deiner Meinung nach?«
Vestis war so klug zu schweigen, zu schweigen, ohne den Blick zu senken. Da kam ich nicht umhin, mir selber zu antworten. Ich berichtete ihm von meinen nächtlichen Mühen und erklärte ihm meine eben zutage getretene böse Angriffslust mit dem Zorn, den ich nach all den Stunden auf keinen bestimmten Menschen, und schon gar nicht auf ihn, Vestis, sondern einzig und allein auf falsch gebrauchte Wörter hatte. Ich könne einfach keine mehr sehen und hören.
»Dann liegt alles in Ihrem guten Charakter begründet«, rief Vestis erfreut. »Selbst das, was mir eben noch zweifelhaft erschien. Sie sind überarbeitet, und überarbeitet sind Sie nur, weil Sie es nicht übers Herz bringen, Antonio Dinge zu lehren, die verkehrt sind! Darum handelt es sich also …«
In seiner Erleichterung machte er Anstalten, dankbar nach meinen Händen zu greifen. Mir aber war das peinlich, so steckte ich sie schnell in meine Rocktaschen. Außerdem sagte ich, um sein übermäßiges Lob abzuwehren: »Sie sind nicht ganz verkehrt, diese Dinge dort in der Fibel, sie sind nur unvollständig.«
»Unvollständig ist gleich verkehrt!«
Vestis erinnerte mich in dieser Sekunde an die ungestümen und zum Widerspruch neigenden Studenten, die ich einst hatte unterrichten dürfen. Daher nickte ich und sagte in der Art und Weise, in der damals Dispute zwischen ihnen und mir geführt worden waren: »Gewiß ist hier unvollständig gleich verkehrt, aber nur dann, wenn wir anerkennen, daß alles, wirklich alles Vermittelte verkehrt ist. Wie das? Nun, nichts, was wir je lesen, hören oder selber sagen, bildet die Wahrheit vollständig ab, sondern immer nur einen mehr oder minder großen Teil von ihr. Insofern enthält jede Wahrheit in ihren Leerstellen mindestens Keime der Unwahrheit, ich betone, mindestens.«
Der junge Wachmann überlegte kurz und schüttelte dann energisch den Kopf. »Mit dem, was Sie sagen, ebnen Sie doch den entscheidenden Unterschied ein: Entweder, man versucht reinen Herzens, der Wahrheit näherzukommen, oder man verfehlt sie mutwillig. Allein dieser Wille respektive Unwille ist es meines Erachtens, der zählt.«
»Gut, aber wenn es so wäre, wenn das wirklich alles wäre, dann frage ich dich: Wie kannst du die beiden Absichten auseinanderhalten? Wie hütest du dich davor, ungerecht zu urteilen?«
»Jetzt tun Sie nicht so, Herr Karandasch! Wollen Sie auf einmal den Obersten in Schutz nehmen? Ich erkenne Sie ja nicht wieder! In dieser Fibel sind doch bestimmte Buchstaben nicht zufällig verfehlt, sondern bewußt weggelassen worden, Sie selber haben das herausgefunden, niemand weiß es besser als Sie!«
Wie fern es mir lag, eine Lanze ausgerechnet für den Obersten zu brechen. Ich war in dieser Minute einfach nur zurück in meiner schon vergessen geglaubten geliebten Rolle als Theoretiker, einer kühlen Rolle, die Vestis arg befremden mußte. Vermutlich hätte ich mich ihr noch weiter hingegeben, wenn ich von meinem jungen Freund nicht lautlos darauf aufmerksam gemacht worden wäre, daß zwei Wachen auf uns zumarschierten. Wir hatten, indem wir eine kleine Weile stehengeblieben waren, die Vorschrift verletzt, derzufolge wir nach meiner Ankunft auf der Insel stets unverzüglich Antonios Zelle aufsuchen sollten. Schnell trat Vestis den Wachen entgegen. Er entschuldigte uns mit der durchaus wahren Begründung, »der Herr Magister« befände sich nicht wohl. Die Wachen musterten mich skeptisch, klemmten sich an unsere Fersen und folgten uns bis vor das Haus. Zu meinem Schrecken sah ich mich nun außerstande, Vestis in meine Pläne einzuweihen. Dabei brauchte ich ihn unbedingt! Nur mit seiner Hilfe würde es mir möglich sein, das Umschreiben der Fibel geheimzuhalten. Ich schalt mich, soeben die wertvolle Zeit mit sinnlosem Philosophieren vertrödelt zu haben. Auf dem etwa 30 Meter langen Gang unter den Kronleuchterwaffen, der uns zum Austausch blieb, flüsterte ich ihm dann in größter Hast und Erregung zu: »Ich habe erste Fibel-Kapitel umgeschrieben. Das Umgeschriebene ist in das Buch geklebt. Maße sind angepaßt. Gomus wird zu faul sein, es zur Hand zu nehmen, keine Gefahr von ihm, aber von dem Rohr. Ich befürchte, man hört uns mit dessen Hilfe ab. Wenn Rauchschwaden hindurchpassen, dann auch
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