Brüder und Schwestern
hätten, Antonio? Daß ich diese Fibel hier, die mitgebrachte, umgeschrieben habe. Nur deshalb konnte ich dir vorhin guten Gewissens erklären, ich verbürge mich für sie. Weil ich sie für dich zurechtgebogen habe, so gut es ging. Aber dieses Zurechtbiegen, dieses ganze Eingreifen ist mir eigentlich strengstens verboten. Man will nicht, daß du richtig lernst.«
»Warum nicht?« fragte Antonio.
»Weil manche Menschen sich maßlos freuen, wenn sie sehen, wie andere sich vergeblich abmühen. Da haben sie ihren Spaß. Ja Antonio, und leider bist du von jemandem ausgesucht worden für das Abmühen. Du sollst dich lächerlich machen. Eigentlich bin ich nur deshalb hier. Man möchte, daß ich dir helfe, dich lächerlich zu machen, aber ich verspüre keine Lust dazu.«
»Mich ausgesucht«, wiederholte Antonio, »wieso?«
In dieser Sekunde begann ich zu ahnen, daß er mich immer weiter löchern würde mit seinen Fragen und daß es in unserem Gespräch längst um viel mehr ging als um das Taschentuch oder um meine sentimentale Erinnerung an Meta. Ich hatte doch schon damit angefangen, Antonio seine deprimierende Lage bewußt zu machen! Aber durfte ich das? Solange er sie nicht begriff, war er vielleicht weniger unglücklich, als wenn er sie begriffe, verhielt es sich nicht so? Dennoch fühlte ich mich verpflichtet, fortzufahren und Antonio weiter aufzuklären. Seine Eltern, sagte ich mir, würden das an meiner Stelle ebenso halten. Niemals würden sie Antonio, während sie ihn dies und das lehrten, die entscheidenden Tatsachen vorenthalten, jene, die sein eigenes bedauernswertes Leben betrafen. Und außerdem, wer sagte eigentlich, daß ein Unglück, dessen man sich bewußt wird, sich dadurch vergrößern muß? Vielleicht ist eher ein Wütendwerden und Mutfassen die Folge? Eine Auflehnung? Ein befreiender Aufruhr? Ich erschrak. Wie fatal es sein kann, einen Gedanken beharrlich zu Ende zu denken! Eine Befreiung war doch ausgeschlossen für Antonio. Eine entsprechende Sehnsucht würde ihn unweigerlich ins Verderben führen. Sollte er eines Tages wirklich beginnen, sich aufzulehnen, würde der Oberste ihn gnadenlos umbringen. Ich schwankte wieder.
Antonio verzog sein Gesicht; weil ich nicht gleich geantwortet hatte? Gefehlt. Er gab mir mit einem Fingerzeig zu verstehen, er müsse zur Grube. Schwerfällig, wie unter Schmerzen, tapste er zu dem Loch im Boden, das sich seitlich der Zellentür in der Ecke befand und mit einem Holzdeckel verschlossen war. Er stieß den Deckel beiseite, ließ seine Pluderhosen fallen und hockte sich über das Loch. Ausdruckslos starrte er mich an. Dann färbte sich sein Gesicht rot. Es schien beinahe zu platzen, aber er wandte es nicht ab. Die Spitze seines Geschlechts berührte, ohne daß er sich darum geschert hätte, den dreckigen Rand des Loches. Bald darauf hörten wir das Schmatzen des sich lösenden Kots, und einen Moment später dessen patschenden Aufprall. Breiige braune Spritzer schlugen an Antonios Schuhe. Dies alles hatte ich schon Dutzende Male gesehen oder zumindest gehört, und ich muß nicht betonen, stets angewidert gewesen zu sein. Nie aber stand mir die jämmerliche Selbstverständlichkeit, mit der Antonio bar jeden Sichtschutzes schiß, deutlicher vor Augen als heute. Er wußte wahrlich nicht das geringste von der Peinlichkeit, die dort an dem stinkenden Loch von ihm ausging. Und das brachte die Entscheidung. Seine Ahnungslosigkeit und seine daraus folgernde Selbsterniedrigung, ich mußte versuchen, sie zu beenden.
Während er sich seine Hosen wieder hochzog, rümpfte Gomus die Nase. Er wälzte sich auch hin und her auf seinem Lager. Vestis sprang zu dem Loch, um schnell und geräuschlos den Deckel darüberzuziehen. Danach verfolgten wir alle drei atemlos, ob Gomus weiterschlafen würde. Und siehe, er tat uns den Gefallen.
Antonio, immer noch rotgesichtig und überdies schwitzend, nahm wieder am Tisch Platz, und ich sagte: »Du wolltest wissen, warum man dich ausgesucht hat, sich lächerlich zu machen, richtig? Das ist gar nicht leicht zu erklären. Ich muß kurz ausholen, zurück bis zu einer Zeit, in der du noch nicht geboren warst. Deine Eltern, Antonio, wollten damals um keinen Preis, daß ein bestimmter Mann die Macht an sich reißt. Sie waren klug und befürchteten, wenn dies geschähe, würde es ihnen und vielen anderen schlecht ergehen. Also bekämpften sie ihn. Sie trauten sich dabei viel mehr als zum Beispiel ich. Nein, ich war nicht besonders mutig, nur ganz im
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