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Brüder und Schwestern

Brüder und Schwestern

Titel: Brüder und Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Meinhardt
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schlossen sich, und Peter Schott und die anderen stimmten ein Lied an, in dem der Zusammenhang zwischen Fußball und Tierhaltung thematisiert wurde: »Lieber ein Verlierer sein als ein dummes Stasischwein.«
    Bald schmetterten sie es inbrünstig, dazu hüpften sie beschwingter denn je. Sie hielten ihre Arme nun auch nicht mehr am Körper, sondern stemmten sie gegen Fenster und Türen des im Schrittempo sich vorwärtsbewegenden Waggons. Und endlich war es soweit: Der Waggon sprang aus den Gleisen. Er schleifte noch kurz durchs Kiesbett und kam dann zum Stehen. Triumphales Gejohle setzte ein, und erneutes, jetzt geradezu ekstatisches Hüpfen. Dieses Ding hier, das man gekapert hatte, ließ es sich vielleicht sogar umkippen? Erste Hauruck-Rufe ertönten. Plötzlich glitt etwas, oder einer, über Mattis Kopf, ein schmächtiges, von der Hochstimmung besonders angestacheltes Bürschchen war das. Es bewegte sich behende wie ein Affe über die Menge und quiekte auch dazu. Und siehe, am Hintern ließ es einen ellenlangen Schwanz blicken, wie eine Liane schwang der durch die Luft. Als jemand daran riß, jaulte das Bürschchen lustvoll auf und sprang mit einem Satz bis an die Decke. Oben ergriff es eine Haltestange. Es schlang sich um sie, aber nur kurz, denn schon drückte es sich wieder ab und flog zur nächsten Stange, wo es sich mit der flachen Hand ein paarmal über die glühende Wange wischte.
    War es, daß man diesem Wesen zuviel Aufmerksamkeit gewidmet und dadurch an Rhythmus und Kraft eingebüßt hatte, oder war es, daß die Räder sich längst in den Kies gegraben hatten – der Waggon schwang mittlerweile kaum noch. Eindeutig, er widerstand. Aber nicht nur deshalb wurden nun rasch die Türen geöffnet, nicht nur deshalb drängten mit einemmal alle ins Freie. Man hatte schließlich nicht ewig Zeit! Man war, mitten auf den Gleisen zwischen Karlshorst und Rummelsburg, in einer strategisch nicht besonders günstigen Lage. Man sollte jetzt langsam verschwinden, bevor noch irgendwelche Kurzhaarigen und Breitschultrigen herbeieilten, um einem unter die Arme zu greifen. Nahezu sekündlich wuchs das Verlangen nach Zerstreuung.
    Peter Schott drückte es, mit Resten von Gleichmut, Matti gegenüber so aus: »Reicht jetz ooch, wa? Laß uns abhaun.«
    Und sie rannten los.
    *
    Als Matti dann sein Buch erstmals in den Händen hielt, war ihm, als habe er es gar nicht geschrieben. Auf dem Umschlag war eine dunkle, wie brandverkohlte Ziegelsteinmauer abgebildet. Matti hatte natürlich von dem Motiv gewußt und es auch gutgeheißen, doch jetzt, da er es sah, lehnte er es ab. Es? Nicht das spezielle Foto schien ihm falsch, sondern, daß da überhaupt ein Foto war. Es verengte einem ja den Blick! Es brannte sich ja schon in den Tiefen des Gehirns ein, bevor der Text anfangen konnte zu wirken. Und war es nicht auch unelegant, so ein Bild? Mit einemmal erinnerte sich Matti, wie er als Kind auf der Wiese an der Schorba gelegen und gelesen hatte, leinenummantelte Bücher meistens, auf denen nur der Name des Autors und der Titel gestanden hatten. Manchmal war auch noch eine Zeichnung darauf gewesen. Damals hatte er sich schlicht und einfach an diesen Zeichnungen erfreut, nun aber begriff er plötzlich, daß in ihnen etwas Spielerisches und Offenes lag, etwas, das sich jeder Festlegung entzog, allein durch den Pinselstrich, der ja auch der Imagination entsprang, der Umwandlung und Verfremdung von Realität; ja, sagte sich Matti, Fotos sollen auf Sachbücher kommen, da sind sie recht, aber nicht auf Romane, da sind sie billig.
    Wegen des Fotos fühlte sich sein eigenes Buch fremd an? So hatte er gedacht, aber das erwies sich als Irrtum. Er schlug das Verschlossene Kind auf, und es wurde ihm noch fremder. Wohin er auch blätterte, wo er auch innehielt – alles erschien ihm beim Lesen gewöhnlich und lasch. Darüber erschrak er. Daß es ihn selber nicht im Ansatz erfreute und nicht im mindesten erregte. Während des Schreibens hatte es ihn doch sogar beglückt! Genauer, immer kurz nach dem Schreiben war er glücklich gewesen, und auch zutiefst erstaunt, darüber, daß es offenkundig möglich war, Gedanken zu empfangen, indem man sie niederschrieb. Catherine gegenüber hatte er es so zu erklären versucht: »Eine leise Orgie ist das, die du veranstaltest, während du formulierst. Aber so lange, wie du das tust, wütet sie nur im Hintergrund, ein fernes Rauschen, das dich antreibt. Du mußt es immer weiter von dir fernhalten, damit es immer weiter

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