Brüder und Schwestern
zugegangen und hatten ihm erklärt, was auch immer Spahner für Geschütze auffahren werde, er solle sich wehren, er habe bestimmt nichts Unrechtes getan. Anderen hingegen war es wichtig gewesen, ihm im Vorbeigehen zuzuzischen, da habe er ihnen ja schön was eingebrockt, nur wegen ihm müßten sie in aller Herrgottsfrühe hier antanzen. Die meisten hatten sich aber stumm auf die Stühle plumpsen lassen.
Spahner, ein kleiner Mann mit Halbglatze, die er noch hervorhob, indem er seine verbliebenen Haare nach hinten kämmte, wo sie eine Art Wall bildeten, saß, flankiert von seinem Stellvertreter Bröslein, hinter einem mit rotem Tuch bespannten Tisch an der Stirnseite des Saales. Matti hatte er angewiesen, schräg vor ihm an einem einzelnen Tisch Platz zu nehmen. Wie bei Gericht, dachte Matti: vorne der Richter, hinten die Zuschauer, und dazwischen er, der Angeklagte.
Spahner begrüßte die Anwesenden und sprach von einem »in der Geschichte des Betriebes singulären Ereignis«, welches die heutige Zusammenkunft nötig gemacht habe. »Worum handelt es sich?« fragte er scharf in den Raum. »Es handelt sich darum, daß der Kollege Matti Werchow auffällig geworden ist durch demonstratives Zeigen des faschistischen Grußes.«
Nur das Knistern der Leuchte und das Brummen der Klimaanlage waren jetzt noch zu hören.
»Des Hitlergrußes?« fragte jemand atemlos.
»Faschistischer Gruß heißt es offiziell«, beschied ihm Spahner.
Matti spürte, wie sich alle Blicke auf ihn richteten, ihm war siedend heiß. Wahrhaft gelassen hatte er den Saal betreten, er war bereit – hatte er gedacht. Der eben gehörte Anwurf aber war so gespenstisch, daß er nicht ein noch aus wußte.
»Zu den Details«, setzte Spahner fort, wobei er nach einem Blatt Papier griff, das vor ihm gelegen hatte. »Der faschistische Gruß wurde vom Kollegen Werchow am 3. Juli 1987 gegen 14 Uhr in der Nähe des Betriebsgeländes ausgeführt. Er begegnete damit dem Kollegen Sylvio Lingsohr, der«, Spahner legte das Blatt wieder ab, »hier und heute folglich als Zeuge fungiert – Sylvio, bitte!«
Lingsohr stand auf, blickte sich bedeutungsvoll um und erklärte: »Ich bestätige den vom Kollegen Direktor Spahner erwähnten Vorgang. Dieser trug sich zu, als der Kollege Werchow mit seinem Schiff, der ›Barby‹, am hiesigen Kai festmachte, um den für die Fahrt durch Westberlin üblichen Wechsel der Besatzungen zu ermöglichen.« Er nahm wieder Platz.
Matti überlegte fieberhaft: Dutzende Male hatte Lingsohr ihn im Laufe der Jahre an diesem Kai abgelöst, und natürlich war er von ihm niemals mit »Heil Hitler« begrüßt worden, wie kam Lingsohr ausgerechnet auf den 3. Juli ’87, was war denn da geschehen, daß dieser falsche Hund jetzt dieses Datum nannte?
Schon forderte Spahner: »Obwohl der bewußte Gruß Erklärung genug ist – ich, und da stehe ich wohl nicht allein, hätte gern eine Erklärung von Ihnen, Kollege Werchow.«
Matti erhob sich wie mechanisch, er schwankte, es sah aus, als sei ihm schwarz vor Augen, er hielt sich krampfhaft am Tisch fest und brachte endlich hervor: »Ich habe keine Erklärung. Ich erinnere mich doch jetzt nicht mehr, was damals gewesen ist. Ich kann nur sagen, daß ich niemals in meinem Leben den Hitlergruß gemacht habe – wie käme ich denn dazu.«
»Was nun?« fragte Spahner streng, »Sie erinnern sich nicht mehr an jenen in Rede stehenden Tag, behaupten aber im selben Atemzug, niemals so gegrüßt zu haben. Wie wollen Sie das so genau wissen, wenn Sie sich zugleich nicht erinnern können?«
»Bitte, erinnern Sie sich denn an jeden Tag ihres Lebens?« fragte Matti leise zurück.
»Es geht hier nicht um mich, sondern um Sie, falls Ihnen das nicht klar ist«, erwiderte Spahner, und dessen Nebenmann Bröslein, der bisher geschwiegen hatte, fügte boshaft hinzu: »Sie glauben doch nicht im Ernst, den Kollegen Direktor für Ihre Zwecke einspannen zu können?«
Matti schüttelte den Kopf, nicht, um Bröslein zu antworten, sondern der gesamten Situation wegen. Er stand noch immer, während alle anderen saßen; dann sah er aus den Augenwinkeln, wie sich noch jemand erhob.
Sein Kumpel Peter. »Wenn ick dazu mal was sagen dürfte«, sagte der in annähernd fließendem Hochdeutsch, in fließenderem jedenfalls, als Matti es jemals von ihm vernommen hatte, »ick zähle ja bekanntlich zur Besatzung des …«
»Sie können hier nicht einfach reinreden«, unterbrach ihn Adlatus Bröslein, aber Peter Schott setzte fort: »Ick
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