Brüder und Schwestern
Verwandlung der Welt sich sogar ziemlich regelmäßig wiederholte, ein Phänomen der Natur, gegen das nichts auszurichten war.
Einige der Artilleristen hatten sich allerdings gar nicht erst die Mühe gemacht, den Wald aufzusuchen, sondern hatten ihr Anschauungsmaterial kurzerhand auf die überwucherten Grabsteine gelegt. Bei ihnen handelte es sich ausschließlich um EK’s. Sie waren völlig vertieft in das, was sie, durchaus doppeldeutig, Grabpflege nannten, sie waren schließlich die einzigen, die hier auf diesem verwahrlosten Areal überhaupt noch antraten, und sie ließen hier etwas auferstehen und erblühen, das ihnen manchmal schon tot erschienen war, erledigt durch Hängolin oder was immer man ihnen in den Tee schüttete, den sie Tag für Tag schlürften. Zufälligerweise errieb sich nun aber einer von denen sein kurzes Glück nicht ganz so konzentriert und nicht ganz so versunken wie die anderen. Hinter drei unter allerlei Verrenkungen sich da und dort leckenden Damen, die er diesmal erwählt hatte und die ihn, eben weil es drei waren, vielleicht überforderten, in dem Sinne, daß er sich keiner vollständig zuzuwenden vermochte, hinter diesem Trio bemerkte er plötzlich, wie in einem Nebelschleier, den Soldaten Werchow, der von einem Bein aufs andere trat und unschlüssig in seinem Magazin blätterte. Der EK unterbrach sein Handwerk, sowieso ganz recht, sagte er sich, wenn man nichts überstürzte, und wies mit der frei gewordenen, noch warmen Hand auf Erik: »Splitter, Katze, guckt mal, da!«
Splittig und Katzner ließen sich nicht stören.
»Na guckt doch mal!«
Unwillig wandten die beiden, die mit dem Rücken zur Kapelle standen, sich um. Ihre freigegebenen Eicheln leuchteten rötlich inmitten des dezemberbraunen Grüns.
»Was denn mit dir«, rief Splittig zu Erik, »mach ma, is nich ewig Zeit!«
Erik spitzte den Mund und winkte ab. Beides sollte lässig und geringschätzig wirken, erschien aber den Gefreiten wie der Auftakt zu einer – hier nun wirklich nicht statthaften – Flucht.
»Komm ma her«, brüllte Splittig. Seine ganze Energie galt jetzt erst einmal Erik. Der bisherige Gegenstand seiner Beschäftigung neigte sich zusehends, ganz wie ein von Zwölf auf Sechs sich bewegender Sekundenzeiger, nach unten.
Erik winkte noch einmal ab und schickte sich an, in der Kapelle zu verschwinden.
»Komm her, hab ich gesagt«, brüllte Splittig nun wie von Sinnen, womit er bei den allermeisten im Wald und auf dem Friedhof schlagartig für eine unerwünschte Interruption sorgte. »Komm her, hier hab ich das Kommando, falls dir das nich klar is. Nur ich, hörste!«
Erik folgte. Sein Heft trug er eingerollt in der Hand.
»Warum hols du dir keinen runter, kannste nich oder willste nich?« fragte Splittig barsch und so laut, daß alle es hören konnten.
Erik runzelte die Stirn. Es ekelte ihn. Und was war »es«? Nicht das, was er in dem Heft zu sehen bekommen hatte und was weit über die ihm bekannten, künstlerisch wertvollen Aktfotos im »Magazin« hinausging, so weit, daß ihm der Atem stockte. Oh, es erregte ihn durchaus, und wenn er allein gewesen wäre … Aber er war nicht allein. Er war umgeben von lauter Schwänzen und Visagen, und deren öffentliches Vibrieren und Schäumen, deren lüsternes Glänzen und Stieren, alles das widerte ihn zutiefst an.
»Kannste nich oder willste nich?« wiederholte Splittig drohend. Und Katzner fügte höhnisch hinzu: »Komm uns jetzt bloß nicht mit deinem Rücken. Vorne spielt die Musik, vorne!« Er wackelte obszön mit dem Becken. Währenddessen hatten sich einige der im Forst Tätigen herbeibemüht, um zu sehen, was hier im Schwange war.
Erik stand zwischen ihnen auf der einen Seite und Splittig und Katzner auf der anderen, und er stand da wie ein begossener Pudel. »Ich will nicht«, sagte er leiser, als er beabsichtigt hatte.
Splittig und Katzner, die merkten, so schnell würden sie nicht dazukommen, ihre Uhren wieder auf Zwölf zu stellen, schlossen ihre Hosenställe.
»Sooo«, sagte Katzner, »du willst nicht. Hast du nicht gehört, was der Ixer befohlen hat? Du hast es doch gehört! Das nennt man dann wohl Befehlsverweigerung, oder?« Er drehte sich zu Splittig.
»Das is ’ne ausgewachsene Befehlsverweigerung«, bestätigte dieser.
»Da sollten wir wohl dafür sorgen, daß der Befehl ausgeführt wird, oder?«
»Da sollten wir wohl für sorgen.«
Erik lief es kalt den Rücken hinunter. Er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was die
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