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Brüder und Schwestern

Brüder und Schwestern

Titel: Brüder und Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Meinhardt
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er, in Zivilklamotten, die Kaserne verließ, erschien ihm diese schon unwirklich. War er jemals da drinnen gewesen? Gab es die Menschen, die noch da drin waren, tatsächlich? War er ihnen irgendwann einmal begegnet? War diese ganze Armee nicht ein böser Traum? Jawohl, so fühlte er sich, als er zum Bahnhof ging, wie nach einem unruhigen Schlaf, wenn die Bilder eines verstörenden Traumes sich mit denen der Realität vermischen, eine seltsam taube Zwischenzeit, während der einem alles fremd ist; selbst die Klamotten, die er trug, gehörten ihm gerade nicht, und genausowenig kannte er die Landschaft, durch die er wandelte, und er spürte auch keine Steine unter den Schuhsohlen, und er roch auch nichts, obwohl aus den Schornsteinen der Häuser, an denen er, oder ein anderer, vorbeizog, Rauch aufstieg, welcher gelb war, wie er sah, aber nicht bemerkte.
    Im Gerberstedter Wehrkreiskommando wurde er von einem jungen, schmalgesichtigen Unteroffizier begrüßt. Dieser erwies sich als redselig und naiv. Er ließ, während er Eriks Wehrpaß samt Hundemarke in Empfang nahm und ihm dafür seinen Personalausweis zurückgab, die Bemerkung fallen: »Mannomann, jetzt kommen aber alle hintereinander, Sie sind schon der vierte diese Woche.«
    Erik brauchte ein paar Augenblicke, um zu verstehen. »Sie wollen sagen, ich bin der vierte aus dem Kreis, der in dieser Woche vorzeitig entlassen werden mußte?« Er klang ebenso überrascht wie enttäuscht. Er hatte geglaubt, er wäre, zumindest unter den Gerberstedtern, ein Einzelfall – in seinem Leiden, das er der Fehldiagnose einiger unfähiger beziehungsweise ungehobelter Ärzte aus diesem Hause hier verdankte, wie auch in seinem Glück, von jenem Leiden beizeiten erlöst worden zu sein.
    »Klar«, sagte der Unteroffizier mit der größten Selbstverständlichkeit.
    »Wieso ist das klar, mir ist das nicht klar, wieso sind es denn so viele?« fragte Erik ungehalten.
    »Na, überlegen Sie doch mal. Sie gehören einem geburtenschwachen Jahrgang an. Deshalb mußten ein paar Leute gezogen werden, die man unter normalen Umständen nicht gezogen hätte.«
    »Das heißt, ich wurde damals nur deswegen tauglich geschrieben, damit der Kreis seine Zahlen erfüllen konnte? War es so?«
    »Klar war es so«, antwortete der Unteroffizier. »Hier hat man schon damit gerechnet, daß manche Leutchen, also solche wie Sie, schnell wiederauftauchen.« Und er lächelte ihn munter an.
    Erik fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen. »Demnach war man bereit, mich zu verheizen«, rief er, »dazu war man durchaus bereit!« All die Schikanen, denen er ausgesetzt gewesen war, er spürte sie noch einmal, jetzt als eine Art Klumpen, und dieser Klumpen rutschte ihm gerade so, und wohl nur deshalb, weil Erik mit entsprechenden Schluckbewegungen nachhalf, durch die Kehle, wobei er ein unangenehmes Brennen hinterließ.
    »Verheizen«, lachte da der Unteroffizier, »nun mal langsam, Sie sind doch noch ganz heile, oder nicht?«
    Erik wollte etwas entgegnen, aber plötzlich war es ihm nicht mehr wichtig. Wozu noch streiten? Warum machte er nicht einfach, daß er hier rauskam? Er stand auf, zog als Zeichen seines Mißfallens mit seinen vollen Lippen eine Schnute und verließ endlich das Jüngelchen und das Wehrkreiskommando und die ganze Welt der sinnlosen Regeln und ausgeklügelten Demütigungen.
    Draußen wurde er sich langsam der Tatsache bewußt, daß er alles in allem nur drei Monate und vier Tage bei der Fahne zugebracht hatte; Himmel, das war ja nicht mehr als der dreihundertste Teil des veranschlagten gesamten Lebens, eine lächerlich kurze Zeitspanne war das doch nur, ein Intermezzo sozusagen. Genugtuung stieg auf in ihm, oder was immer das war.

Drei Tage im November
    Es war 6 Uhr 30, und es war wieder November, der dritte nach der Trauerfeier. Die Frühschicht lief. Willy, der vor einem halben Jahr Direktor des »Aufbruch« geworden war, begann seinen täglichen Rundgang durch die einzelnen Abteilungen, ein Ritual aus seiner Zeit als Produktionschef, das er beibehalten hatte. Er wollte nicht über die Köpfe der Leute hinweg entscheiden, er wollte Bescheid wissen über die Lage da unten, so was behaupten tat mancher, aber Willy meinte es ernst, und außerdem war ihm auch recht wohl dort, er liebte all die Geräusche und Gerüche, die ihm entgegenschlugen. Er kannte sie seit 25 Jahren. Er hatte hier als Lehrling angefangen. Man hätte ihm die Augen verbinden können, und er wäre imstande gewesen, den verwinkelten

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