Brüder und Schwestern
Stubengesprächen, selbst an den unverfänglichen, so gut wie nie teil. Er ging nicht mit in den Fernsehraum, wenn dort ein Fußballspiel lief. Er erbat sich nicht einmal die Krümel, wenn jemand mit einem Kuchen aus dem Heimaturlaub kam und an jeden Stücke verteilte. Kurzum, er wartete förmlich darauf, daß jene unguten Gefühle der anderen sich einmal entluden. Und die anderen, sie registrierten es. Je schwächer Erik sich ihnen gegenüber zeigte, um so unverhohlener lauerten sie auf ihre Gelegenheit, denn niemand unter den Menschen ist gefährdeter als der Kraftlose, dem von einer übergeordneten Instanz Unantastbarkeit zugesprochen wurde: Jene nur verliehene Unantastbarkeit – sie muß von ihm unbedingt bestätigt werden, am besten mit Hochmut und Verwegenheit. Er darf nicht jämmerlich erscheinen, er darf nicht, tief wird ansonsten sein Fall sein, und grausam die Rache der anderen.
Die Gelegenheit ergab sich in der Woche vor Weihnachten. Vom Ixer wurde ein seltsamer Befehl erteilt: »Wegtreten zur Gräberpflege«. Erik scheute sich zu fragen, was das zu bedeuten habe, und wunderte sich über die Mienen der anderen, die ihm freudig bis gierig erschienen. Man fuhr ohne Vorgesetzten. Splittig steuerte den W 50. Auf den Bänken herrschte geradezu andächtige Ruhe. Nach vielleicht zehnminütiger Fahrt stoppte das Fahrzeug, und als die Plane hochgeklappt wurde, erblickte Erik tatsächlich einen Friedhof. Er lag mitten im Wald und wirkte ungepflegt. Die meisten Gräber waren von Unkraut überwuchert, und Unkraut kroch filzig auch an den Grabsteinen hoch, verdeckte deren Gravur. Am Rande stand eine kleine, türlose Kapelle mit rissigem Mauerwerk. Dort hinein drängte schweigend die Mannschaft. Erik, der den Zug beschloß und erst einmal auf der durchgetretenen Schwelle verharrte, sah, daß sich keine Stühle in der Kapelle befanden und auch keine Leuchter. Sie schien, abgesehen von einem in der Ecke lehnenden Holzkreuz, vollkommen leer zu sein. Er trat zögernd ein, ging um die anderen, die einen Halbkreis gebildet hatten, herum, entdeckte Splittig, der bis zum Nabel in einer Art Grube steckte. Neben dem Gefreiten lagen ein paar aus dem Boden gerissene Bohlen, die Abdeckung der Grube. Splittig reichte jetzt etwas hoch, Hefte waren das, wie Erik erkennen konnte, längst verblaßte, halb zerfledderte Illustrierte. Jemand streckte Erik, ohne sich umzuwenden, eine hin. Erik griff zu und wurde auf einmal aus großen, erregt verdrehten Augen angeschaut. Sie gehörten einer nackten, knieenden Blondine, deren pralle Brüste wohl aus dem Magazin gefallen wären, wenn nicht ein nach oben, zum lieben Gott blickender Mann sie von hinten mit seinen Händen gehalten hätte. Zugleich trieb er mit seinem Schwengel die ganze Frau nach vorn. Wo sie wiederum aufgehalten wurde von einem anderen Mann, der sich da niedergelassen hatte, um sich von ihr sein Geschütz polieren zu lassen. Es war bis zur Hälfte in ihrem Mund verschwunden und beulte ihre Wange, als habe sie einen fürchterlich dicken Zahn. Sie steckte mächtig in der Klemme, aber es schien ihr nichts auszumachen, es schien genau das zu sein, was sie sich wünschte.
Die Kapelle leerte sich rapide. »Diese säuischen Schweden, o diese säuischen Schweden«, murmelte einer verzückt beim Hinausgehen. Erst da fiel Erik die fremde Schrift über der allseits bereiten Frau auf. Das ist also schwedisch, dachte er. Die Soldaten verteilten sich. Die meisten liefen in den Wald. Sie blätterten in dem Exemplar, das sie erhalten hatten, entschieden sich teils nach wenigen Sekunden, teils erst nach Minuten für ein bestimmtes Bild und hielten es dann mit einer Hand oder plazierten es genüßlich auf einer Astgabel in Augenhöhe. Bald begann dicker weißer Regen auf den Boden zu tropfen, tief hingen die Wolken, aus denen er kam, und schwer waren sie, und winterhart lag die Erde, auf der nichts versickerte, auf der sich schnell Rinnsale bildeten, welche sich vereinigten, und anschwollen, denn weiter und weiter regnete es, mal hier, mal da, es war nun schon ein wahrer Strom, der sich durch die Landschaft wälzte, ins Haff hinein, das danach jede Menge schweres, undurchsichtiges, milchiges Wasser enthielt, jo beim Klabaudermann, datt geiht hier gar nich mehr voran, sagte manch Kutterkapitän und drehte die Maschinen, vergeblich, vergeblich, auf volle Kraft, und es ward von den Kapitänen endlich weißes Meer getauft, das Haff, weil dies alles hier ja nicht zum ersten Mal geschah, weil diese
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