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Brüder und Schwestern

Brüder und Schwestern

Titel: Brüder und Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Meinhardt
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gehe und er sich schon daran gewöhnen werde. Doch, erwidert er trotzig, es geht anders. Ich: Wie denn? Er: Indem Matti umzieht. Dann kann ich wenigstens hierbleiben. Aber du bist der Ältere, sage ich, dir fällt der Umzug leichter, Matti begreift das alles noch nicht so recht. Daraufhin mault er, immer bin ich der Ältere, immer bin ich der Ältere, und dreht sich mit einem Ruck zur Wand. Und was mache ich? Ich drücke seine Schulter wieder runter, nicht rabiat, aber auch nicht sanft, und sage: Mein lieber Erik, das sehe ich überhaupt nicht gern, das läßt du bitte bleiben. Er starrt mich ohnmächtig an, er denkt sich wohl, nichtmal das bißchen Umdrehn ist mir erlaubt. Und ich denke gar nichts in dem Moment, außer, daß ich es ihm nunmal habe sagen müssen, das mit dem Zimmer.«
    Willy schaute demonstrativ in den Himmel, um das Ende seiner Geschichte anzuzeigen. Der Camembert hing jetzt so, daß sein bleicher Leib von den langen, spitzen Ästen jener mächtigen Ulmen und Erlen aufgespießt zu werden schien, die an den Flußufern standen.
    »Und was willst du mir damit nun sagen?« fragte Matti. »Wenn du damit ausdrücken willst, daß Erik in seiner Kindheit von dir oder von euch unverhältnismäßig hart behandelt worden wäre, dann kann ich dir überhaupt nicht folgen. Nichts war hart. Wir hatten eine schöne Kindheit. Wir sind von euch nicht geschurigelt und erst recht nicht … nicht verbogen worden. Die Schwierigkeiten kamen doch später, und ja wohl eher von außen. Ich mag es nicht, wie du dich selber schlechtmachst, ich hasse es, ich hasse es …« Er senste mit dem Fuß durchs schon nachtfeuchte Laub.
    »Da verstehst du mich falsch«, erwiderte Willy ruhig und bestimmt. Er schien sich seiner Gedanken und Erinnerungen immer sicherer zu werden. »Denn das hoffe ich doch auch, daß ihr eine schöne Kindheit hattet. Und ich mache mich auch nicht schlecht. Ich habe dir nur zu verdeutlichen versucht, wie wir von Erik Verständnis verlangt haben. Und natürlich war das bloß eine Episode von vielen. Immer, immer sollte er Verständnis zeigen, einfach, weil er der Ältere war. Und er hat es gezeigt! Er hat ganz früh gelernt, Rücksicht zu nehmen, und zwar auf euch, seine Geschwister. Erst war diese Rücksicht eine erzwungene, aber bald hat er sie von sich aus aufgebracht und ist auf alle Menschen, und schon nicht mehr nur auf euch, äußerst taktvoll eingegangen. Erik war ein Garant für Harmonie, zu unserer Freude natürlich, man merkt doch nicht gleich, wohin es führt, wenn jemand dauernd fremde Wünsche erfüllt, das geht einem erst auf, wenn es zu spät ist …«
    »Wohin führt es?« fragte Matti, der zunehmend gebannt seinem Vater gelauscht hatte.
    Willy blieb stehen. »Überleg doch nur«, rief er mit fester, durchdringender Stimme: »Indem du dich fremden Wünschen beugst, beugst du dich natürlich auch fremden Meinungen, Meinungen, die nicht einmal im Ansatz die deinen sind. Und deine Meinungen verkümmern derweil. Irgendwann traust du ihnen nicht mehr. Du traust dir nicht mehr. Dein Selbstwertgefühl wird zerlöchert. Du weißt eigentlich, der andere, mit dem du gerade zu tun hast, liegt falsch, aber weil er sicherer ist als du, weil es dir ausgetrieben worden ist, deinen eigenen Gedanken zu folgen, gibst du sie auch diesmal auf. Weißt du was, Matti? Viel zu oft wird Opportunismus, und darüber reden wir doch hier in Wahrheit, wird Opportunismus ganz und gar mit Falschheit und Berechnung gleichgesetzt – jemand paßt sich in Windeseile an, um voran- oder aus einer Sache herauszukommen, jemand verbiegt sich ausschließlich aus Kalkül. Aber das ist zu einfach. Vielleicht öfter, als man denkt, beruht Opportunismus auch auf Unsicherheit. Zumindest geht’s auf diese Weise los: Jemand achtet zu sehr auf andere; so jemand entdeckt dann leicht sogar einen Sinn in dem, was ein anderer sagt oder fordert und was er eigentlich ablehnt. Das mag ja stimmen, daß er seine Überzeugung aufs schändlichste verrät, aber ich wiederhole, ebenso stimmt, daß er an ihr zweifelt. Er kann sie ja gerade deshalb so schnell verraten, weil er so sehr an ihr zweifelt. Mit seinen Zweifeln, Matti, kann er sogar den Verrat vor sich selbst verbergen. Wenigstens kann er ihn rechtfertigen. Um nochmal auf Erik zurückzukommen: Der Fluch, jawohl, der Fluch liegt eindeutig im Verständnis, das wir von ihm gefordert haben, heute erkenne ich es. Zuviel Verständnis macht einen nur schwach. Auf zuviel Verständnis folgt der Verlust

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