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Brüder und Schwestern

Brüder und Schwestern

Titel: Brüder und Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Meinhardt
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kandierten Äpfeln, Bonbons, Gummitieren, Luftballons, Schokoladentafeln leeren und umstülpen, um zusätzliche Sitzplätze zu schaffen, denn der Zirkus würde ausverkauft sein die ganze Woche – nun gut, das war er fast immer, aber es war ein Unterschied, ob man mit Mühe den letzten Platz losschlug, oder ob sich draußen noch die Massen um den Eintritt balgten und man lauter neue letzte Plätze zu 1,05 Mark hervorzaubern konnte. Und genau dies würde ohne Zweifel geschehen bei dem Regen dem Segen hier, denn wer würde sich jetzt noch in den Ostseesand wühlen, niemand, keine Konkurrenz mehr dieser einstmals feine, mittlerweile zu Pampe verklumpte Sand; o ja, alle würden zu Devantier strömen, wo sie Wärme und Trockenheit und, darum ging’s doch letztlich, ein gewisser Pomp erwartete, Gold in mannigfaltiger Form: das blitzender Absperrständer, das gewienerter Schulterstücke, das wogender Federn auf Pferdeköpfen, das feingesponnener Kostümsäume, das schriller Trompeten, das allzeit gespannter Tigerkörper, das durch die Luft fliegender Keulen.
    Routiniert bezogen die Mitglieder von »Devantier Circus« ihre Plätze auf dem suppigen Gelände. Vorn, und mittig, als Orientierungspunkt für alle, machte der Kassenwagen halt. Das Erdstück rechts davon wurde vom Prinzipal beansprucht. Hinter ihm durfte sich der Große Leonelli niederlassen. Er trug jetzt, aber nicht nur jetzt, eine schwarze Strickmütze, was damit zusammenhing, daß ihm vor zwei Jahren von einem seiner Braunbären ein Ohr abgerissen worden war, hatte doch das Tier im Scheinwerferlicht der Manege Leonellis Kopf mit einem der zu fangenden Bälle verwechselt. Das Abreißen erledigte es im übrigen mit dem stoischsten Gesichtsausdruck der Welt. Leonelli wiederum, nicht umsonst trug er den Titel »der Große«, ließ sich davon nicht im mindesten abhalten, die Nummer anständig zu Ende zu bringen. Das einzige, worauf er doch lieber verzichtete, war die tiefe Verbeugung am Ende, da er, nicht ganz zu Unrecht, befürchtete, das Blut würde dabei aus seinem Kopfe schießen wie Wasser aus einem weit geöffneten Hahn. Hinter ihm rollte Marty Handy heran, der schon in die Jahre gekommene Jongleur. Noch immer verstand er es, sein Publikum in Staunen zu versetzen, unter anderem, indem er sieben brennende Kerzen zugleich aus den Öffnungen eines Leuchters hoch in die Luft beförderte und wieder in die Löcher ploppen ließ. Auch war er in der Lage, mit einem Löffel, der ihm zwischen den Zähnen steckte, Tischtennisbälle aus 20 Metern Entfernung zu fangen. Allerdings waren es vor einem Jahr noch neun Kerzen respektive 30 Meter gewesen. Außerdem hatte er bis dahin statt eines Löffels eine Gabel im Mund gehabt, auf der die Bälle klebenblieben wie auf Honig. Und Devantier, Devantier wußte dies alles nur zu gut. Er beobachtete Marty nicht mit Mitleid, denn das war eine Gefühlsregung, die er scheinbar nicht in seinem Repertoire hatte, sondern mit zunehmendem Ärger. Würde der Jongleur noch tattriger werden, als er nun schon war, würde Devantier ihn wohl in die Wüste schicken müssen, getreu seiner bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit vorgebrachten Devise: »Ich bin kein Sanatorium! Wer sich erholen will, Herrschaften, muß zum Staatszirkus! Da ist Eierschaukeln die größte Nummer!« Aber weiter in der Rangordnung: Hinter Marty parkte John Klinger seinen Wagen, ein etwa 30 Jahre alter Bursche, der Devantier vor fünf oder sechs Jahren zugelaufen war wie ein streunender Hund. Dieser Klinger, richtiger Vorname Johannes, hatte einst in einer LPG des Typs I, Tierproduktion, irgendwo in den prärieähnlichen Weiten des Bezirks Neubrandenburg gearbeitet, wurde aber, nachdem er beim Scheren der Schafe auf ein schwarzes Exemplar mit roter Farbe ein paar Zahlen aufgebracht hatte, für 24 Monate dringend im Kalksteinbruch von Rüdersdorf vor den Toren Berlins benötigt, wohin man ihn jeden Morgen von der Hauptstadt aus karrte, genauer von Rummelsburg, genauer von einem mit allerlei Gittern geschmückten Bauwerk. Die Zahlen nämlich hatten 2.581.912 gelautet. Und? Wenn man sich nach der zweiten und der dritten Ziffer Punkte hinzudachte, erhielt man das Geburtsdatum eines Bürgers namens Honecker. Klinger erfuhr nie, von wem dieser ihm einfallsreich erscheinende Gruß moniert worden war. Nach seiner Haft aber erwies er sich im Zirkus als wahres Naturtalent. »Heiliger Johannes«, staunte selbst Richard Devantier, als er sah, wie schnell der Neue das

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