Brüder und Schwestern
Gesell mit seinem ja schon nicht mehr zu bremsenden Hammer die Hand. Indes verlief alles ohne Zwischenfälle. Eine beständige Kuppel aus perfekten Tönen wölbte sich über der Stelle, an der später das Chapiteau, mit Seilen befestigt an eben jenen Ankern, hochgezogen werden würde; wie gern hätte Britta wenigstens einmal innegehalten und hätte den Männern, den schwitzenden Erbauern jener aus schierem Rhythmus bestehenden Kathedrale, zugeschaut, doch keine Zeit, keine Zeit, bald würde Devantier die Messingglocke läuten, die er, wie immer, an einem eigens dafür gezimmerten galgenähnlichen Holzgestell vor seinem Wagen aufgehängt hatte, seine übliche Erinnerung, daß es nur noch eine Stunde bis Vorstellungsbeginn war. Britta würde sich hinterm Süßigkeitenstand postieren; wenn die erste Nummer lief, den Pferden das Geschirr anlegen; wenig später die Exoten zur Manege führen; in der Pause abermals Süßigkeiten …
Und wenn alles vorbei war und sie noch nicht zu müde, würde sie sich die abgegriffenen Bälle und Keulen schnappen, die Marty ihr überlassen hatte, und würde unter diffuser Nachtbeleuchtung in der verwaisten Manege an einem ganz anderen, feineren Rhythmus arbeiten.
*
Was war denn nun aber das Aufregende, von dem Matti ihr, wenn auch bloß in groben Zügen, und auch nur unter dem Siegel absoluter Verschwiegenheit, berichtet hatte?
Etwas mit Karin Werth war das.
Matti, so die Vorgeschichte, streunerte gerade durch die ersten Wochen seiner letzten großen Ferien. Er hatte sein Abitur mit 1,4 gemacht. Im September würde er seine Ausbildung zum Schiffsführer beginnen. Vorher wollte er mit Jonas eine Tramptour nach Bulgarien unternehmen, bis runter nach Primorsko, wo es angeblich eine Steilküste gab, an der sich die schönsten Mädchen des sozialistischen Lagers zu versammeln pflegten, und zwar hüllenlos. Laut Plan hätten sie beide sich jetzt schon irgendwo zwischen Bratislava und Budapest befinden müssen; doch waren sie noch nicht einmal losgefahren. Eindeutig Jonas’ Schuld: Er, der sich früher von einer Aktion in die nächste gestürzt hatte, wirkte in letzter Zeit ungewohnt antriebsarm. Außerdem zeigte er sich viel zu oft mürrisch und ließ sich zu wütenden, beleidigenden Ausfällen hinreißen. Hatten die sich einst ausschließlich gegen seine Feinde gerichtet, so konnten sie jetzt auch seine Freunde treffen. Von Matti deswegen zur Rede gestellt, schwieg er verbissen. Natürlich hegte Matti gewisse Vermutungen. Für ihn lag es auf der Hand, daß Jonas, so unverwundbar er sich lange Zeit auch gegeben hatte, seine Relegation einfach nicht verwinden konnte. Und ebenso, oder vielleicht noch mehr, machte ihm wohl die Trennung von Britta zu schaffen.
Dies nämlich war nicht nur eine räumliche Trennung, wie Matti von seiner Schwester wußte. »Mein Gefühl ist irgendwie verkohlt«, hatte sie ihm schon im Frühjahr gebeichtet, und auf seine Nachfrage, woran das denn liege, hatte sie ihm ein wenig von jenem fatalen Nachmittag erzählt, wie ihm schien, nicht ohne sich selber zu wundern. »Was damals zwischen Jonas und mir passiert ist«, sagte sie, »war doch gar nichts richtig Schlimmes. Und trotzdem hat es alles zerstört, mir jedenfalls. Ein Ereignis, das nur für dich Bedeutung besitzt, und für den anderen gar nicht so, und schon wenden sich die Dinge. Und er begreift’s nicht. Verstehst … verstehst du mich?«
Etwas Banges in ihrer Frage war unüberhörbar gewesen. Aber nicht deshalb hatte Matti sofort geantwortet, er verstünde sie – sondern, weil es die blanke Wahrheit war. Nur zu gut verstand er das alles. Warum zeigte er denn seinem Bruder, wenn der mal zu Besuch war, die kalte Schulter? Weil er mit dem genausowenig zu tun haben wollte wie Britta nun noch mit Jonas. Weil Erik ihn ebenso enttäuscht hatte. Sogar viel härter als Britta mit ihrem Verflossenen ging er mit Erik ins Gericht. Gestorben, dachte Matti bei jeder Begegnung mit ihm, gestorben bist du für mich.
Kurzum, da er noch nicht auf großer Tour war, und da er nicht den ganzen Tag daheim auf der Wiese liegen und lesen konnte, ging er eines Tages in das Eiscafé »Schoko + Vanille« in der Schöpfgasse. Wo er Karin Werth an einem der runden, eisenfüßigen Marmortische sitzen sah. Sie war in ein vergilbtes Buch vertieft und rauchte. Neben ihr stand eine leere Kaffeetasse. Immer, wenn sie einen Zug machte, schaute sie, aus zu Schlitzen verengten Augen, kurz auf. Matti lehnte an der Theke, um zu bestellen. Als
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