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Brüder und Schwestern

Brüder und Schwestern

Titel: Brüder und Schwestern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: B Meinhardt
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Messerwerfen lernte, in drei Tagen nämlich. Sofort brachte er ihn zum Einsatz. Es blieb ihm freilich auch gar nichts anderes übrig, war doch kurz zuvor die hübsche und junge, ach noch so junge Freundin des bisherigen Werfers zu Tode gekommen, und zwar nicht durch einen mißglückten Wurf, sondern weil sie, die an die schwere, scharfkantige Zielscheibe gekettet und mit dieser fast schon so verwachsen war wie eine Galionsfigur mit dem Schiffsbug, eine unbedachte Bewegung vollführt hatte und die Scheibe unaufhaltsam nach vorn gefallen war, mit ihr, auf sie, auf ihr Genick. Einerlei aber, auf welche Weise die Arme dahingegangen war, der Werfer, welcher gar nicht geworfen hatte, sah sich nun außerstande, seinen doch ohne Zweifel reizvollen Beruf weiter auszuüben, sehr zur Verwunderung Devantiers, der knurrte, er habe noch ganz andere Dinge erlebt und habe seine Arschbacken immer zusammengekniffen, das sei ja wohl das mindeste, was man von einem ausgewachsenen Mann verlangen könne: daß er seine Arschbacken zusammenkneife. Hinter Klinger schließlich kampierten die Jaroslawls, drei muskulöse und trotzdem schlanke Brüder, die sich nach der Stadt an der Wolga benannt hatten, aus der sie stammten. Trainiert, oder besser gesagt: getrimmt, oder noch besser gesagt: geknechtet von ihrem Vater, der ähnlich despotisch auftrat wie Devantier, zogen sie in luftigster Höhe die verwegenste Flugschau ab. Dimitri, der Fänger, baumelte im Kniehang mit dem Kopf nach unten am Trapez und packte die aus zehn, zwölf Metern Entfernung heransausenden, saltischlagenden, nicht weniger als anderthalb Zentner wiegenden Juri und Grigori am Handgelenk; so sicher und so stark war er, daß man ihm zutraute, gut und gerne auch ein springendes Pferd an der Fessel zu greifen und an sich zu ziehen. Beim eindeutig schwierigsten Trick aber faßte er Juri nicht am Handgelenk, sondern an den Zehen, und schleuderte ihn durch die ganze Kuppel punktgenau wieder an dessen Trapez zurück. Juri, dem die Zehen in die Länge gezogen worden waren, als bestünden sie aus Knete, lächelte keck. Das Publikum trampelte vor Begeisterung. Dennoch gelangte der Trick nur einmal zur Aufführung. Es war in Wahrheit auch gar kein Trick gewesen. Es hatte sich um einen Fehler im Bewegungsablauf gehandelt, um einen fast tödlichen Fehler, denn hätte Dimitri nicht im letzten Moment Juri noch irgendwo zu greifen gekriegt, wäre der an den Mast geklatscht und umstandslos zu Brei transformiert worden. Auch dies blieb dem alten Devantier natürlich nicht verborgen, ebenso das folgende, vom Jaroslawl-Vater angesetzte, unter heftigem Gebrüll abgehaltene Straftraining, das sich bis weit nach Mitternacht hinzog. Professionalität, die er zutiefst respektierte und deretwegen er den Jaroslawls als einzigen Gast-Arbeitskräften das Privileg einräumte, auf seiner, der »besseren« Seite des Lagers, zu kampieren.
    Das alles, das war nun Brittas Welt! Seit März zog sie mit dem Zirkus herum, lange genug, um sich nicht mehr als Fremde zu fühlen, aber noch nicht lange genug, um hier schon zu Hause zu sein. Mit einem Rest von Staunen erledigte sie die Arbeiten, zu denen sie eingeteilt war und die ihr alle leicht von der Hand gingen. Mit immer wieder neu sich aufbauender Erregung fieberte sie den Momenten entgegen, in denen die Musik einsetzte und die Scheinwerfer aufblendeten. Sie liebte diese rasante Verdichtung von Geschehnissen, dieses wunderbar Eruptive, auf das alles, was sie alle hier den ganzen Tag über taten, das notgedrungen Gewöhnliche, das ständig sich Wiederholende, immer von neuem hinauslief; und wenn Heimweh sie überkam, dann schrieb sie Ruth und Willy, sie schrieb auch Matti (der beim Antworten durchblicken ließ, es gäbe, ihn selber betreffend, hochinteressante, ja aufregende Entwicklungen), und sie schrieb Catherine und sogar Erik, mit angezogenen Beinen auf ihrem schmalen Bett hockend, in ihrem zugigen Preßspanwagen auf der linken, der »schlechteren« Seite des Lagers. Nur Jonas, dem schrieb sie nicht …
    Der Wagenpark stand, nun wurde das Hauptzelt errichtet. Britta schleppte Bretter für die Sperrsitze sowie Verkleidungen für die Logen. Sie unterquerte die glockenhelle Musik, die von den Männern in die Luft gejagt wurde, vier Gruppen zu je drei Spielern, ausgerüstet mit schweren Hämmern, die im Rundschlag auf Anker niederfuhren, auf 240 wuchtige Anker, und jeder, wirklich jeder Hieb mußte sitzen, denn rutschte jemand ab, zerquetschte ihm der nächste

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