Brüder und Schwestern
fielen ihr auf die Schultern. Sie hatte keine Mühe darauf verwendet, sich älter zu machen, als sie war. Fast war sie ja so jung wie er! Ein wildes Klopfen in Mattis Brust übertönte den Motor des anfahrenden Busses. Zur Begrüßung schenkte sie ihm ein Lächeln, das er nicht zu deuten wußte. Es war sanft und matt. Nicht ihm ergeben, aber doch, wie seltsam, ergeben. Er schwang sich auf die Jawa seines Vaters und fragte, ob sie schon einmal Motorrad gefahren sei. Sie antwortete nicht. Er fuhr an, sie legte ohne Hast die Arme um seine Hüften, da wußte er, wie überflüssig die Frage gewesen war. Er beschleunigte. Die weißen Striche des unterbrochenen Mittelstreifens schienen immer kürzer, immer spitzer zu werden, kalkige Geschosse, die ihm entgegenflogen. Im zunehmenden Fahrtwind suchte Karin hinter ihm Schutz, Matti spürte ihren Atem im Nacken. Sein Glied streckte sich an der heißen Wand des Tanks entlang, gewann noch an Steife durch das Federn der Jawa auf den Bodenwellen, von denen der Asphalt durchzogen war. Kurzzeitig befürchtete er ein Desaster, dann, zum Glück, erforderte ein unmittelbar vor ihnen auf die Straße biegender Traktor mit einem Hänger, der randvoll mit Kartoffeln gefüllt war, seine ganze Aufmerksamkeit. Bald kamen sie in den Wald, hinter dem der Stausee lag. Matti fuhr auf der direkt zur Staumauer führenden Straße, bremste dann aber und schlug Karin vor, in den Wald hineinzufahren. Sie nickte. Er jubilierte still, denn jetzt war klar, sie würden sich nicht an die öffentliche Badestelle auf der anderen Seite des Sees legen. Er nahm verschiedene Abzweigungen von Waldwegen, Äste knackten, Vögel stoben auf, Spinnweben benetzten ihn und einmal auch sie, die ihr Gesicht an seiner Schulter wieder sauberrieb. Endlich das Silber des Sees.
»Nun sind wir da«, sagte Matti.
»Ja«, nickte Karin.
Vor ihnen tauchte ein kranker Baum seine Äste ins Wasser. Andere Bäume hielten hingegen ihre untersten Glieder genau soweit über dem Wasser, daß ihre Blätter nicht naß wurden. Erstaunt wies Matti Karin darauf hin: »Als ob ein Gärtner die alle ständig verschneiden würde. Ist mir noch nie aufgefallen.«
»Ja«, sagte sie wieder.
Er breitete eine Decke aus, sie streifte ihren ledernen Rucksack ab. Ein Portemonnaie und ein Buch fielen heraus, das alte, vergilbte, das sie im Café gelesen hatte. Er hob es auf und las halblaut: Der unbekannte Dostojewski .
Abermals sagte sie nichts weiter als ihr ewiges »Ja«.
»Was ist der unbekannte Dostojewski?«
»Derjenige, der sich in Dokumenten erklärt: Warum hat er was geschrieben oder auch nicht geschrieben. Derjenige mit Skizzen, die umfangreicher und gehaltvoller sind als die allermeisten Bücher, die in den Buchhandlungen liegen. Derjenige, der uns in Briefen seine Antriebe offenbart.« Sie lachte kurz. »Ich bin mir damit untreu geworden. Meiner Meinung nach soll man nämlich von einem Autor nur das Werk kennen, nichts weiter. Alles Persönliche lenkt nur ab, führt in die Irre, verändert im Kopf des Lesers schon den Text. Das Werk sollte seine einzige Kennzeichnung sein. Nur dann kann man es vorurteilsfrei lesen. Ich mag überhaupt nichts weiter wissen …«
»Aber?«
»Ach, ich entdeckte es in einem Antiquariat in Erfurt. Es ist schon aus den 20er Jahren. Ich konnte einfach nicht widerstehen.«
Er legte sich auf den Bauch, mit Blick zum Wasser, und begann, in dem Buch zu blättern: »Das ist Frakturschrift.«
»Ja.«
Sie legte sich neben ihn, ihre Haare kitzelten seinen Arm, machten ihm Gänsehaut. In seinem Glück und seiner Vorfreude, in seiner Gewißheit gestand er ihr ohne Scheu: »Das einzige Buch in Frakturschrift, das ich je zu lesen anfing, habe ich nicht zu Ende gebracht. Es war mir einfach zu mühsam, mich durch die Buchstaben zu wühlen.«
»Du bist nicht in ihnen heimisch geworden«, nickte sie. »Aber paß auf, ich weiß, wie das geht. Ich lese dir eine Passage vor, und du schaust währenddessen aufs Papier und liest mit. So kommst du rein.«
Sie strich sich ihre Haare hinter die Ohren, schlug eine Seite auf und begann zu lesen, mit weicher, fließender Stimme, mit einer Stimme, die, wie er meinte, auf geheimnisvolle Weise in seine Blutbahnen gelangte und dort zirkulierte, sich mit dem vermengte, was schon immer in ihm gewesen war:
»In den Skizzenheften zu dem Roman Der Idiot (1867) finden wir einige Pläne, einem Menschen gewidmet, der nicht von dieser Welt ist, einem eigenartigen Wesen, das seiner Individualität
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