Brunetti 01 - Venezianisches Finale
hatte.
Er griff in den Papierkorb und holte den Gazzettino wieder heraus. Wie gewöhnlich brachten sie ein Foto vom Tatort, dem Teatro La Fenice mit seiner langweiligen, symmetrischen Fassade. Daneben war ein kleineres Bild vom Bühneneingang, aus dem zwei uniformierte Männer etwas heraus trugen. Das Foto darunter war ein neueres Porträt des Maestros mit weißer Krawatte und noch immer dunklem, vollem Haar, das über dem kantigen Gesicht nach hinten gekämmt war. Die Augen wirkten leicht slawisch und seltsam hell unter den dunklen Brauen. Die Nase war viel zu lang für das Gesicht, doch die Wirkung der Augen war so stark, dass der kleine Makel kaum ins Gewicht fiel. Der Mund war breit, die Lippen voll und fleischig, ein seltsam sinnlicher Kontrast zu dem strengen Augenausdruck. Er versuchte sich an das Gesicht zu erinnern, wie er es gestern Abend gesehen hatte, verzerrt vom Tod, aber dieses Foto hatte eine solche Kraft, dass es den Eindruck verwischte. Er betrachtete die hellen Augen und versuchte sich einen Hass vorzustellen, der so intensiv war, dass er jemanden dazu bringen würde, diesen Mann zu zerstören.
Seine Spekulationen wurden von einer der Sekretärinnen unterbrochen, die den Polizeibericht aus Berlin brachte, der inzwischen gekommen und schon ins Italienische übersetzt war.
Bevor er anfing zu lesen, sagte Brunetti sich, dass Wellauer so etwas wie ein lebendes Denkmal gewesen war und die Deutschen stets nach Helden suchten, er also bei der Lektüre mit beidem rechnen musste. Das hieß, einige Wahrheiten würde er nur angedeutet, andere in dem Weggelassenen finden. Hatten nicht viele Künstler der Nazipartei angehört? Aber wer erinnerte sich schon heute nach all den Jahren noch daran?
Er schlug die Mappe auf und begann den italienischen Text zu lesen. Deutsch konnte er nicht. Wellauer hatte sich keines Vergehens schuldig gemacht, nicht einmal eines Verkehrsdelikts. In seiner Wohnung in Gstaad war zweimal eingebrochen worden; beide Male war von dem Diebesgut nichts wieder aufgetaucht und niemand festgenommen worden. In beiden Fällen war die Versicherung für den Schaden aufgekommen, obgleich es sich um horrende Summen gehandelt hatte.
Brunetti kämpfte sich durch zwei weitere Absätze germanischer Genauigkeit, bis er zum Selbstmord der zweiten Ehefrau kam. Sie hatte sich nach einer lang anhaltenden Depression, wie es im Bericht hieß, am 30. April 1968 im Keller ihrer Münchener Wohnung erhängt. Einen Abschiedsbrief hatte man nicht gefunden. Sie hinterließ drei Kinder, Zwillingsbrüder und ein Mädchen, die damals sieben und zwölf Jahre alt waren. Wellauer selbst hatte die Leiche gefunden und sich nach der Beerdigung ein halbes Jahr völlig aus der Öffentlichkeit zurückgezogen.
Die Polizei hatte ihm keine Aufmerksamkeit gewidmet, bis er vor zwei Jahren Elisabeth Balintffy geheiratet hatte. Sie war gebürtige Ungarin, Ärztin und Deutsche durch ihre erste Ehe, die drei Jahre vor ihrer Heirat mit Wellauer geschieden wurde. Auch sie war weder in Deutschland noch in Ungarn vorbestraft. Aus ihrer ersten Ehe hatte sie eine dreizehnjährige Tochter, Alexandra.
Brunetti suchte nach einem Hinweis auf Wellauers Aktivitäten während des Krieges, aber vergeblich. Seine erste Ehe mit der Tochter eines deutschen Industriellen, geschlossen 1936, wurde erwähnt, ebenso die Scheidung nach dem Krieg. Dazwischen schien der Mann nicht existiert zu haben, was Brunetti durchaus als Zeichen dafür deutete, was der Mann getan oder zumindest unterstützt hatte. Diesen Verdacht würde er allerdings kaum bestätigt finden, jedenfalls nicht in einem offiziellen Bericht der deutschen Polizei.
Kurz und gut, Wellauer hatte eine so saubere Weste, wie es sich ein Mann nur wünschen konnte. Dennoch hatte ihm jemand Zyankali in den Kaffee getan. Die Erfahrung hatte Brunetti gelehrt, dass Menschen sich vor allem aus zwei Gründen gegenseitig umbrachten: Geld oder Sex. Die Reihenfolge war nicht wichtig und letzterer wurde oft Liebe genannt, aber in fünfzehn Jahren der Beschäftigung mit Mörderischem hatte er nur wenige Ausnahmen von dieser Regel erlebt.
Noch vor elf Uhr hatte er den Bericht der deutschen Polizei fertig gelesen. Er rief im Labor an, nur um zu erfahren, dass nichts unternommen worden war. Man hatte keine Fingerabdrücke von der Tasse oder von anderen Flächen in der Garderobe des Toten genommen, die versiegelt blieb, eine Tatsache, die offenbar schon drei Anrufe der Theaterleitung nach sich gezogen hatte.
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