Brunetti 01 - Venezianisches Finale
erhoben hatte, um den langen Y-Schnitt anzusetzen, war Brunetti nach vorn gesackt und mitten zwischen den um ihn sitzenden Medizinstudenten in Ohnmacht gefallen. Gelassen hatten sie ihn in den Vorraum hinausgetragen und den halb Betäubten auf einen Stuhl gesetzt, bevor sie zurückeilten, um weiter zuzusehen. Viele Mordopfer waren ihm seit damals unter die Augen gekommen, zerfetzt von Messern, Kugeln, sogar Bomben, aber nie hatte er gelernt, sie teilnahmslos zu betrachten und nie wieder hatte er sich dazu durchringen können, der kalkulierten Verletzung durch eine Autopsie zuzusehen.
Die Tür zu dem kleinen Wartezimmer ging auf und Rizzardi, ebenso untadelig gekleidet wie letzte Nacht, trat ein. Er roch nach teurer Seife, nicht nach dem Karbol, das Brunetti unwillkürlich mit seinem Beruf in Verbindung brachte.
»Guten Tag, Guido«, sagte er und streckte die Hand aus. »Tut mir leid, dass Sie sich die Mühe gemacht haben, extra herzukommen. Ich hätte Ihnen das wenige, was ich habe, auch telefonisch durchgeben können.«
»Ist schon in Ordnung, Ettore, ich wollte sowieso herausfahren. Bevor diese Trottel im Labor mir einen Bericht schicken, kann ich nichts unternehmen. Und um mit der Witwe zu sprechen, ist es auch noch zu früh.«
»Dann will ich Ihnen mal sagen, was ich gefunden habe«, meinte der Arzt, schloss die Augen und begann aus dem Gedächtnis aufzuzählen. Brunetti zog sein Notizbuch heraus und notierte sich, was er vernahm. »Der Mann war kerngesund. Wenn ich nicht wüsste, dass er vierundsiebzig war, hätte ich ihn für mindestens zehn Jahre jünger gehalten, Anfang Sechzig, vielleicht sogar Ende Fünfzig. Muskeltonus hervorragend in Form, wahrscheinlich durch Training bei einem allgemein gesunden Körper. Keine Anzeichen von Krankheit an den inneren Organen. Trinker kann er nicht gewesen sein, die Leber war perfekt. Selten bei einem Mann seines Alters. Geraucht hat er auch nicht und falls früher mal, hat er vor Jahren damit aufgehört. Meiner Einschätzung nach hätte er noch gut und gern seine zehn bis zwanzig Jahre leben können.« Damit öffnete er die Augen und sah Brunetti an.
»Und die Todesursache?«, fragte er.
»Kaliumcyanid. Zyankali. Im Kaffee. Ich schätze, er hat ungefähr dreißig Milligramm aufgenommen, mehr als genug, um ihn zu töten.« Er hielt einen Moment inne, dann fügte er hinzu: »Ich hatte es noch nie gesehen. Bemerkenswerte Wirkung.« Seine Stimme verebbte und er verfiel in eine Art Träumerei, die Brunetti beunruhigend fand.
Nach einem Weilchen fragte Brunetti: »Stimmt es, dass es so schnell wirkt? Ich habe das mal gelesen.«
»Ja, ich glaube schon«, antwortete Rizzardi. »Wie gesagt, ich hatte noch nie einen Fall gesehen, keinen richtigen. Ich hatte auch nur darüber gelesen.«
»Auf der Stelle?«
Der Arzt dachte kurz nach, bevor er antwortete. »Ja, ich nehme es an, oder jedenfalls so nahe daran, dass es auf dasselbe herauskommt. Vielleicht hatte er einen Moment Zeit, um zu merken, was geschah, aber er hat wahrscheinlich geglaubt, es sei ein Schlaganfall oder eine Herzattacke. Auf jeden Fall war er tot, bevor ihm recht klar wurde, was es war.«
»Was ist denn die eigentliche Todesursache?«
»Alles hört auf. Hört schlicht auf zu arbeiten: Herz, Lunge, Hirn.«
»Innerhalb von Sekunden?«
»Ja. Fünf. Höchstens zehn.«
»Kein Wunder, dass sie es nehmen«, sagte Brunetti.
»Wer?«
»Spione, in Spionageromanen. Sie haben Kapseln in hohlen Zähnen versteckt.«
»Hm«, machte Rizzardi. Falls ihn Brunettis Vergleich seltsam anmutete, ließ er sich das nicht anmerken. »Ja, es wirkt sehr schnell, aber es gibt viel Tödlicheres.« Auf Brunettis erhobene Brauen hin erklärte er: »Botulismus. Bakterielle Lebensmittelvergiftung. Dieselbe Menge, die ihn umgebracht hat, könnte wahrscheinlich halb Italien umbringen.«
Damit war nicht viel anzufangen, auch wenn sich der Doktor offensichtlich für das Thema begeistern konnte, darum fragte Brunetti: »Ist Ihnen noch irgend etwas aufgefallen?«
»Es sieht aus, als sei er in den letzten Wochen behandelt worden. Wissen Sie, ob er vielleicht eine Erkältung hatte oder so etwas?«
»Nein.« Brunetti schüttelte den Kopf. »Wir wissen noch gar nichts. Wieso?«
»Es gibt Injektionsspuren. Und da nichts auf Drogenmissbrauch hinweist, nehme ich an, es war ein Antibiotikum, vielleicht ein Vitamin, irgendeine normale Sache. Genau genommen waren die Spuren so schwach, dass sie vielleicht gar nicht von Injektionen stammten; es
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