Brunetti 01 - Venezianisches Finale
Brunetti ereiferte sich ein Weilchen, aber er wusste, dass es zwecklos war. Danach sprach er kurz mit Miotti, der ihm erzählte, er habe gestern Abend nichts Neues von dem Portier erfahren, außer dass der Dirigent ›ein kühler Genosse‹, die Frau sehr nett und freundlich und La Petrelli ganz und gar nicht sein Fall sei. Genauer konnte der Portier das nicht begründen, er zog sich auf die Erklärung zurück, sie sei einfach antipatica. Für ihn genügte das.
Es hatte keinen Zweck, Alvise und Riverre hinzuschicken, um Fingerabdrücke zu nehmen, jedenfalls nicht, bevor das Labor wusste, ob auf der Kaffeetasse noch andere als die des Dirigenten waren. Da bestand kein Grund zur Hast.
Verstimmt, dass er darüber sein Mittagessen verpassen würde, verließ Brunetti kurz nach zwölf sein Büro und ging zur Bar an der Ecke, wo er ein Sandwich und ein Glas Wein bestellte, weder das eine noch das andere nach seinem Geschmack. Obwohl alle in der Bar wussten, wer er war, fragte keiner ihn nach dem Tod des Dirigenten, wenn auch ein alter Mann bedeutungsvoll mit der Zeitung raschelte.
Brunetti ging zum Anleger San Zaccaria und bestieg ein Vaporetto Nummer fünf, das ihn durch den Arsenale und an der Rückseite der Insel entlang zur Friedhofsinsel San Michele brachte. Er ging selten auf den Friedhof; aus irgendeinem Grund hatte er den Kult, den so viele Italiener mit ihren Toten betreiben, nicht angenommen.
Früher war er öfter hier gewesen, genau genommen gehörte es zu seinen frühesten Erinnerungen, dass man ihn als Kind mitgenommen hatte, um das Grab seiner Großmutter zu pflegen, die im Krieg bei einem Bombenangriff der Alliierten auf Treviso ums Leben gekommen war. Er wusste noch, wie bunt die Gräber waren, richtige Blumenteppiche und wie ordentlich, jedes saubere Rechteck vom nächsten abgegrenzt durch messerscharfe Kanten und kleine Grünstreifen. Und wie trist die Menschen dazwischen - fast alles Frauen - die mit diesen Bergen von Blumen kamen. Wie grau und schäbig sie ausgesehen hatten, als ob sie all ihren Sinn für Farbe und Adrettheit diesen Geistern in der Erde geopfert hätten und für sie selbst wäre nichts übrig geblieben.
Und heute, über fünfunddreißig Jahre später, waren die Gräber noch genauso ordentlich, die Blumen immer noch von explosiver Farbenvielfalt, aber die Menschen, die dazwischen herumgingen, sahen eher aus, als ob sie zur Welt der Lebenden gehörten, es waren nicht mehr die grauen Gespenster der Nachkriegsjahre. Das Grab seines Vaters war leicht zu finden, es lag ganz in der Nähe von Strawinskys. Der Russe war sicher; er würde bleiben, unangetastet, solange der Friedhof bestand oder sich Menschen seiner Musik erinnerten. Für Brunettis Vater war die Zukunft ungewisser, denn es dauerte nicht mehr lange, bis sein Grab geöffnet und seine Gebeine herausgenommen würden, um in einem Beinhaus in einer der langen, überfüllten Mauern des Friedhofs untergebracht zu werden.
Das Grab war jedoch gut gepflegt; sein Bruder war verantwortungsbewusster als er. Die Nelken in der im Boden steckenden Glasvase waren frisch; den Nachtfrost vor drei Tagen hätten sie sonst nicht überlebt. Brunetti bückte sich und schob ein paar Blätter beiseite, die der Wind gegen die Vase geweht hatte. Als er sich aufrichtete, hob er noch eine Zigarettenkippe neben dem Grabstein auf. Dann stand er da und betrachtete das Foto auf dem Stein. Er sah seine eigenen Augen, sein Kinn und die zu großen Ohren, die ihn und seinen Bruder übersprungen und sich stattdessen auf ihre Söhne vererbt hatten.
»Ciao, Papà«, sagte er, aber dann fiel ihm nichts weiter ein. Er ging die Gräberreihe entlang und warf die Kippe in einen großen in die Erde eingelassenen Metallbehälter am Ende.
Im Friedhofsbüro gab er seinen Namen und Rang an, worauf ihn ein Angestellter in ein kleines Wartezimmer führte und ihn bat, sich zu gedulden, der Dottore käme gleich. In dem Zimmer gab es nichts zu lesen, so begnügte er sich damit, aus dem einzigen Fenster auf das umfriedete Kloster zu schauen, um das man die Friedhofsgebäude gebaut hatte.
Zu Beginn seiner Laufbahn hatte Brunetti einmal darum gebeten, der Autopsie des Opfers in seinem ersten Mordfall beizuwohnen - einer Prostituierten, die von ihrem Zuhälter umgebracht worden war. Er hatte genau zugesehen, wie die Leiche in den Autopsiesaal gerollt wurde und fasziniert beobachtet, wie das weiße Tuch von dem nahezu perfekten Körper gezogen wurde. Und als der Arzt das Skalpell
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