Brunetti 01 - Venezianisches Finale
könnten auch andere kleine Verletzungen sein.«
»Aber keine Drogen?«
»Nein, wahrscheinlich nicht«, sagte der Doktor. »Er hätte sich leicht in die rechte Hüfte spritzen können - er war Rechtshänder - aber ein Rechtshänder kann sich keine Spritze in den rechten Arm oder die linke Gesäßhälfte geben, jedenfalls nicht an der Stelle, wo ich den Einstich gefunden habe. Und, wie gesagt, er war bei bester Gesundheit. Wenn er irgendwelche Drogen genommen hätte, dann hätte ich es gemerkt.« Er hielt inne, um dann fortzufahren: »Abgesehen davon bin ich nicht einmal sicher, dass es sich um Einstiche handelt. In meinem Bericht werde ich sie einfach als subkutane Blutungen bezeichnen.« Brunetti hörte an seinem Tonfall, dass er diese Stellen für unwichtig hielt und schon bedauerte, sie erwähnt zu haben.
»Noch etwas?«
»Nein, nichts weiter. Wer immer es war, hat ihn mit Sicherheit um mindestens zehn Jahre seines Lebens gebracht.«
Wie immer zeigte Rizzardi keinerlei Neugier, wer das Verbrechen begangen haben könnte - und wahrscheinlich entsprach das sogar seinem Empfinden. In all den Jahren, die sie sich kannten, hatte Brunetti nie erlebt, dass der Doktor nach dem Verbrecher fragte. Manchmal hatte er sich interessiert oder sogar fasziniert bei einer besonders einfallsreichen Tötungsart gezeigt, aber nie schien es ihn zu kümmern, wer der Täter war oder ob man ihn gefasst hatte.
»Danke, Ettore«, sagte Brunetti und schüttelte dem Arzt die Hand. »Ich wünschte, unser Labor würde genauso schnell arbeiten.«
»Wahrscheinlich ist ihre Neugier nicht so ausgeprägt wie meine«, sagte Rizzardi und bestätigte damit Brunettis Meinung, dass er diesen Mann nie verstehen würde.
8.
Auf dem Boot zurück in die Stadt beschloss er, unangemeldet bei Flavia Petrelli vorbeizugehen, um zu sehen, ob sie sich inzwischen vielleicht erinnert hatte, dass sie gestern Abend in der Garderobe des Maestros gewesen war. Die Vorstellung, etwas zu tun zu haben, belebte ihn und er stieg an den Fondamenta Nuove aus und ging zum Krankenhaus, dass eine gemeinsame Mauer mit der Basilica SS. Giovanni e Paolo hatte. Wie alle venezianischen Adressen war die Anschrift, die ihm die Amerikanerin gegeben hatte, wenig aussagekräftig in einer Stadt, die nur die Namen der sechs Stadtteile für Straßenadressen hatte und dazu ein Numerierungssystem ohne Sinn und Plan. Die einzige Möglichkeit war, bis zur Kirche zu gehen und jemanden zu fragen, der in der Nähe wohnte. Brett Lynch war sicher nicht allzu schwer zu finden. Ausländer zogen eher in die schickeren Viertel der Stadt, nicht in diese solide Mittelschichtsgegend und nur wenige Fremde sprachen, als seien sie hier aufgewachsen, wie Brett Lynch es tat.
Vor der Kirche fragte er eine Frau erst nach der Hausnummer und dann nach der Amerikanerin, aber sie konnte ihm weder über die eine noch die andere etwas sagen. Sie meinte, er solle Maria fragen und schien zu erwarten, dass er genau wusste, welche Maria sie meinte. Maria betrieb, wie sich herausstellte, den Zeitungskiosk vor der nahe gelegenen Schule und wenn Maria nicht wusste, wo die Amerikanerin wohnte, dann wohnte sie auch nicht in dieser Gegend.
Am anderen Ende der Brücke vor der Kirche fand er Maria, eine weißhaarige Frau unbestimmten Alters, in ihrem Kiosk hinter den Zeitungen sitzen, als seien es Prophezeiungen und sie die Sibylle. Er nannte ihr die Hausnummer, nach der er suchte und sie antwortete lächelnd: »Ah, Signorina Lynch.« Und gab dem Namen die zwei Silben, die er italienisch ausgesprochen forderte. Die Calle della Testa hinunter, das erste Haus rechts, vierte Klingel und würde es ihm etwas ausmachen, ihre Zeitungen mitzunehmen?
Brunetti fand die Tür ohne Schwierigkeiten. Der Name war in ein verkratztes altes Messingschild neben der Klingel eingraviert. Er klingelte und kurz danach wurde er durchs Haustelefon gefragt, wer er sei. Er widerstand der Versuchung zu sagen, dass er gekommen sei, um die Zeitungen zu bringen und nannte nur Namen und Rang. Wer immer am anderen Ende gewesen war, sagte nichts darauf, aber die Tür sprang auf und er trat ein. Rechts führte eine Treppe nach oben und er begann hinaufzusteigen, wobei er mit Wohlgefallen die leichte Höhlung registrierte, die Jahrhunderte der Benutzung in jede Marmorstufe gewetzt hatten. Er mochte es, wie die Ausbuchtung seine Füße in die Mitte zwang. Zwei Stockwerke stieg er nach oben und ein drittes. Bei der vierten Wende wurde das Treppenhaus plötzlich
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