Brunetti 01 - Venezianisches Finale
breiter und die alten, ausgetretenen Marmorstufen waren durch gerade geschnittene Stücke istrischen Marmors ersetzt. Dieser Teil des Gebäudes war vor nicht allzu langer Zeit gründlich restauriert worden.
Die Treppe endete vor einer schwarzen Metalltür. Als er darauf zuging, ahnte er, dass er durch den winzigen Spion über dem oberen Schloss beobachtet wurde. Bevor er noch klopfen konnte, wurde die Tür von Brett Lynch geöffnet, die zur Seite trat und ihn hereinbat.
Er murmelte das rituelle »Permesso«, ohne das ein Italiener nie das Haus eines anderen betrat. Sie lächelte, bot ihm aber nicht die Hand zur Begrüßung, sondern drehte sich um und ging ihm durch einen Flur voraus in den Wohnraum.
Er war überrascht, als er in dem großen, hellen Raum stand, der sicher zehn mal fünfzehn Meter maß. Der Holzfußboden war aus jenen dicken Eichenbalken, die auch die ältesten Dächer der Stadt stützten. Von den Wänden waren Farbe und Putz abgeklopft, so dass der ursprüngliche Backstein zum Vorschein kam. Am bemerkenswertesten war die ungeheure Helligkeit, die durch sechs Oberlichter hereinströmte, die in Dreierpaaren auf beiden Seiten der hohen spitzwinkligen Decke eingelassen waren. Wer immer die Erlaubnis bekommen hatte, ein so altes Gebäude derart zu verändern, musste entweder einflussreiche Freunde oder Bürgermeister und Stadtplaner gleichermaßen erpresst haben, dachte Brunetti. Und alles war erst kürzlich geschehen, das sagte ihm der Geruch nach frischem Holz.
Er lenkte seine Aufmerksamkeit von der Wohnung auf die Besitzerin. Gestern Abend war ihm nicht aufgefallen, wie groß sie war, diese eckige Größe, die Amerikaner offenbar attraktiv fanden. Aber ihr Körper hatte nichts von der Zerbrechlichkeit, die oft mit Größe einhergeht. Sie sah gesund und fit aus, ein Eindruck, der durch ihre reine Haut und die klaren Augen noch unterstrichen wurde. Er merkte, wie er sie anstarrte, beeindruckt von der Intelligenz in ihrem Blick und gleichzeitig irritiert, dass er darin nach Gerissenheit suchte. Er wunderte sich, dass er sie nicht als das akzeptieren konnte, was sie zu sein schien, eine attraktive, kluge Frau.
Flavia Petrelli saß, etwas gekünstelt, wie er fand, links neben einem der hohen Fenster, durch die man in der Ferne den Glockenturm von San Marco sehen konnte. Ihre Begrüßung bestand lediglich in einem kurzen Kopfnicken, das er erwiderte, bevor er sich an ihre Freundin wandte und sagte: »Ich habe Ihre Zeitungen mitgebracht.«
Er achtete darauf, sie ihr mit der Titelseite nach oben zu geben, damit sie die Bilder sehen und die schreienden Schlagzeilen lesen konnte. Sie warf einen Blick darauf, faltete sie rasch zusammen und sagte: »Danke«, bevor sie sich umdrehte und sie auf ein niedriges Tischchen warf.
»Darf ich Ihnen zu Ihrer Wohnung gratulieren, Miss Lynch?«
»Danke«, war die kurze Antwort.
»So viel Licht, so viele Dachfenster, das ist ungewöhnlich in einem so alten Haus«, bemerkte er neugierig.
»Ja, nicht wahr?«, meinte sie nichts sagend.
»Kommen Sie schon, Commissario«, unterbrach Flavia Petrelli. »Sie sind doch sicher nicht hier, um über Innenarchitektur zu reden.«
Als wollte sie die brüske Bemerkung ihrer Freundin abschwächen, sagte Miss Lynch: »Setzen Sie sich doch, Dottor Brunetti« und deutete auf einen niedrigen Diwan, der vor einem langen Glastisch mitten im Zimmer stand. »Hätten Sie gern einen Kaffee?«, fragte sie, ganz artige Gastgeberin, als sei dies ein rein privater Besuch.
Obwohl er eigentlich gar keinen Kaffee wollte, sagte er ja, nur um zu sehen, wie die Sängerin darauf reagieren würde, dass er ein Weilchen zu bleiben gedachte und keine Eile hatte. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder einer Partitur zu, die sie auf dem Schoß liegen hatte und beachtete ihn nicht, während ihre Freundin den Kaffee machen ging.
Solange die eine beschäftigt war, Kaffee zu machen und die andere ihn ignorierte, sah Brunetti sich in der Wohnung um. Die Wand vor ihm war von oben bis unten voller Bücher. Die italienischen erkannte er leicht daran, dass man den Titel von unten nach oben lesen konnte, bei den englischen war es umgekehrt. Aber über die Hälfte der Bände waren mit Zeichen bedruckt, die er für Chinesisch hielt. Alle sahen aus, als seien sie mehr als einmal gelesen. Dazwischen standen überall kleine Keramiken - Schalen und menschliche Figuren - die auf ihn höchstens entfernt orientalisch wirkten. Ein Regalbrett wurde von CD-Kassetten eingenommen,
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