Brunetti 01 - Venezianisches Finale
sollte.
»Beruhte das auf Gegenseitigkeit?«, fragte er ruhig. »Hatte der Maestro an Ihnen auch etwas auszusetzen?«
Sie warf einen Blick zu Brett Lynch, die wieder an ihrem Espresso nippte. Wenn zwischen den beiden etwas ausgetauscht wurde, so sah Brunetti es jedenfalls nicht.
Schließlich, als wäre sie unzufrieden mit der Rolle, die sie spielte, hob Signora Petrelli eine Hand, die Finger weit gespreizt, wie es Brunetti heute morgen auf dem Zeitungsfoto gesehen hatte, das sie als Norma zeigte. Sie streckte dramatisch die Hand von sich und sagte: »Basta. Genug damit.« Er war fasziniert von dem Wandel, der sich da vollzog, denn mit der Geste hatte sie Jahre abgeworfen. Abrupt stand sie auf und die Härte verschwand aus ihrem Gesicht.
Sie drehte sich um und sah ihn voll an. »Früher oder später werden Sie sowieso alles erfahren, also erzähle ich es Ihnen besser.« Er hörte das leise Klicken von Porzellan, als die andere Frau ihre Tasse auf dem Tisch absetzte, aber er ließ die Sängerin nicht aus den Augen. »Er hat mir vorgeworfen, ich sei lesbisch und Brett sei meine Geliebte.« Sie hielt inne und wartete auf seine Reaktion. Als keine kam, fuhr sie fort. »Es fing am dritten Probentag an. Nichts Direktes oder Eindeutiges, nur die Art und Weise, wie er mit mir sprach und wie er von Brett sprach.« Wieder eine Pause, in der sie auf seine Reaktion wartete; wieder kam keine. »Am Ende der ersten Woche habe ich etwas zu ihm gesagt, was dann zu einer Auseinandersetzung führte, an deren Ende er sagte, er wolle meinem Mann schreiben.« Sie schwieg kurz und korrigierte sich dann: »Meinem Exmann.« Sie wartete die Wirkung auf Brunetti ab.
Neugierig geworden, fragte er: »Warum hätte er das tun sollen?«
»Mein Mann ist Spanier. Meine Scheidung wurde aber in Italien ausgesprochen. Und in Italien wurde mir auch das Sorgerecht für unsere Kinder zugesprochen. Wenn mein Mann hier in diesem Land so etwas gegen mich vorbringen würde...« Sie ließ den Satz unvollendet und machte damit klar, wie sie die Chancen sah, dann noch ihre Kinder behalten zu können.
»Und die Kinder?«, wollte er wissen.
Sie schüttelte verwirrt den Kopf, verstand die Frage nicht.
»Die Kinder, wo sind sie?«
»In der Schule, wo sie hingehören. Wir wohnen in Mailand und dort gehen sie auch zur Schule. Ich halte es nicht für richtig, sie überallhin mitzuschleppen, wo ich zufällig singe.« Sie kam auf ihn zu und setzte sich ans andere Ende des Sofas. Als er zu ihrer Freundin hinüber sah, saß diese mit abgewandtem Gesicht da und sah auf den Glockenturm hinaus, beinahe, als ob dieses Gespräch sie nichts anginge.
Lange Zeit sagte keiner etwas. Brunetti dachte über das nach, was er eben erfahren hatte und überlegte, ob es der Grund für sein instinktives Zurückweichen vor der Amerikanerin war. Aber er und Paola hatten so viele Freunde verschiedenster sexueller Neigungen, dass er es nicht für möglich hielt, selbst wenn die Anschuldigung stimmte.
»Nun?«, fragte die Sängerin endlich.
»Nun was?«, fragte er zurück.
»Wollen Sie nicht fragen, ob es stimmt?«
Er tat die Frage mit einem Kopfschütteln ab. »Ob es stimmt oder nicht, ist unwichtig. Wichtig ist, ob er seine Drohung wahr gemacht und es Ihrem Mann mitgeteilt hätte.« Während er sprach, hatte Brett Lynch sich wieder umgedreht und betrachtete ihn jetzt abwägend.
Als sie sprach, klang ihre Stimme ruhig. »Er hätte es getan. Jeder, der ihn gut kannte, weiß das. Und Flavias Mann würde Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um das Sorgerecht für die Kinder zu bekommen.« Als sie den Namen ihrer Freundin aussprach, sah sie zu ihr hin und ihre Blicke trafen sich für einen Moment. Sie rutschte tief in ihren Sessel, steckte die Hände in die Hosentaschen und streckte die Beine aus.
Brunetti betrachtete sie eingehend. Waren es ihre glänzenden Stiefel, das lässige Zurschaustellen von Reichtum in dieser Wohnung, was ihn veranlasste, sie mit solcher Skepsis zu betrachten? Er versuchte klar zu denken, sie unvoreingenommen zu sehen, eine Frau Anfang dreißig, die ihm ihre Gastfreundschaft angeboten hatte und ihm nun offenbar ihr Vertrauen anbot. Im Gegensatz zu ihrer Arbeitgeberin - wenn es das war, was Flavia Petrelli darstellte - hielt sie nichts von dramatischen Gesten oder versuchte auf irgendeine Weise die herbe angelsächsische Schönheit ihrer Züge hervorzuheben.
Er sah, dass ihr perfekt geschnittenes Haar im Nacken feucht war, als hätte sie vor noch nicht
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