Brunetti 02 - Endstation Venedig
Augen. »Mike, Mike«, flüsterte sie, dann wandte sie sich ab.
Brunetti nickte dem Warter zu, der das Tuch wieder übers Gesicht des jungen Mannes breitete.
Brunetti fühlte ihre Hand auf seinem Arm, ihr Griff war erstaunlich fest. »Woran ist er gestorben?«
Er wollte sich umdrehen und sie nach draußen führen, aber sie packte seinen Arm noch fester und wiederholte eindringlich: »Woran ist er gestorben?«
Brunetti legte seine Hand auf die ihre und sagte: »Kommen Sie nach draußen.«
Bevor er recht wußte, was sie vorhatte, drängte sie sich an ihm vorbei, griff nach dem Tuch und riß es weg, so daß der Körper des jungen Mannes bis zur Taille entblößt war. Der große Y-Schnitt von der Autopsie, der vom Nabel bis zum Hals reichte, war mit Riesenstichen zusammengenäht. Nicht zugenäht und im Vergleich dazu scheinbar harmlos war der kleine horizontale Schnitt, durch den er ums Leben gekommen war.
Ein leises Ächzen entrang sich ihr, und sie wiederholte den Namen: »Mike, Mike.« Es hörte sich an wie ein langgezogener, durchdringender Klagelaut. Dabei stand sie merkwürdig aufrecht und starr neben der Leiche, und der wehklagende Ton wollte nicht aufhören.
Der Wärter trat rasch vor sie und zog taktvoll das Tuch wieder über die Leiche, das zuerst die beiden Wunden und dann das Gesicht zudeckte.
Sie drehte sich zu Brunetti um, und er sah, daß ihre Augen voller Tränen waren, aber er sah auch noch etwas anderes darin: Angst, nackte, animalische Angst.
»Geht's wieder, Doctor?« fragte er leise, wobei er darauf achtete, sie nur ja nicht zu berühren oder ihr sonst irgendwie zu nahe zu kommen.
Sie nickte, und der seltsame Ausdruck verschwand aus ihren Augen. Abrupt drehte sie sich um und ging auf die Tür zu. Ein paar Schritte davor blieb sie plötzlich stehen und sah sich um, als wäre sie überrascht, da zu sein, wo sie war, dann rannte sie zu einem Waschbecken am anderen Ende der Wand. Sie übergab sich heftig in das Becken und würgte immer wieder, bis sie schließlich halb gebückt, die Arme aufs Becken gestützt, keuchend stehenblieb.
Der Wärter erschien plötzlich neben ihr und reichte ihr ein weißes Handtuch. Sie nahm es mit einem Nicken und wischte sich das Gesicht ab. Sanft nahm der Mann sie beim Arm und führte sie zu einem anderen Becken ein paar Meter weiter an derselben Wand. Er drehte den Heißwasserhahn auf, dann den kalten, und hielt die Hand darunter, bis es die richtige Temperatur hatte. Dann nahm er ihr das Handtuch ab und hielt es, während Doktor Peters sich das Gesicht wusch und den Mund ausspülte. Als sie fertig war, gab er ihr das Handtuch wieder, drehte das Wasser ab und verließ den Raum durch die gegenüberliegende Tür.
Sie faltete das Handtuch zusammen und legte es über den Rand des Beckens. Auf ihrem Weg zurück zu Brunetti vermied sie es, nach links zu sehen, wo die Leiche, jetzt zugedeckt, immer noch auf der Bahre lag.
Als sie bei ihm war, drehte Brunetti sich um und ging zur Tür, hielt sie ihr auf, und sie traten hinaus in die wärmere Abendluft. Während sie unter den langen Arkaden entlanggingen, sagte sie: »Es tut mir leid. Ich weiß auch nicht, warum mir das passiert ist. Ich habe schon öfter Autopsien gesehen. Ich habe sogar welche gemacht.« Sie schüttelte im Gehen ein paarmal den Kopf. Er sah die Bewegung nur aus den Augenwinkeln.
Er fragte, wenn auch nur noch der Form halber: »Ist es Sergeant Foster?«
»Ja, er ist es«, antwortete sie ohne Zögern, aber er merkte, daß sie Mühe hatte, ruhig und gelassen zu sprechen. Selbst ihr Gang war steifer als beim Hineingehen, als ließe sie sich ihre Bewegungen nur noch von der Uniform vorschreiben.
Sie verließen den Friedhof durchs Tor, und Brunetti führte sie hinüber zum Landesteg, wo Monetti das Boot festgemacht hatte. Er saß in der Kabine und las Zeitung. Als er sie kommen sah, faltete er diese zusammen und ging zum Heck, wo er an der Anlegeleine zog, um das Boot so nah ans Ufer zu bringen, daß sie leicht an Bord konnten.
Diesmal sprang sie zuerst aufs Boot und ging sofort die Treppe hinunter in die Kabine. Brunetti blieb nur lange genug stehen, um Monetti zuzuflüstern: »Lassen Sie sich soviel Zeit wie möglich für den Rückweg«, dann folgte er ihr.
Sie saß jetzt weiter vorn, mit Blick aus den vorderen Fenstern der Kabine. Die Sonne war schon untergegangen, und der Himmel war kaum mehr hell genug, um noch viel von der Silhouette der Stadt zu ihrer Linken erkennen zu können. Er setzte sich
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