Brunetti 02 - Endstation Venedig
zwischen ihnen und murmelte etwas, das er als »ja« verstand, aber weiter sagte sie nichts. Er merkte, daß sie von Zeit zu Zeit tief durchatmete, um sich zur Ruhe zu zwingen, eine seltsame Reaktion, da sie ja immerhin Ärztin war.
Als hatte sie seine Gedanken gelesen, blickte sie zu ihm auf, lächelte ein sehr hübsches Lächeln und sagte: »Es ist etwas anderes, wenn man den Menschen kennt. Beim Medizinstudium sind es Fremde, da ist es leicht, den professionellen Abstand zu wahren.« Sie machte eine lange Pause. »Und Leute in meinem Alter sterben normalerweise nicht.«
Da hatte sie sicher recht. »Haben Sie lange zusammen gearbeitet?« fragte Brunetti.
Sie nickte und wollte antworten, aber bevor sie noch etwas sagen konnte, ruckte das Boot heftig. Sie hielt sich mit beiden Händen an ihrem Sitz fest und warf ihm einen ängstlichen Blick zu.
»Wir sind gerade in die Lagune hinausgefahren, hier ist mehr Wellengang. Keine Sorge, es ist nichts Beängstigendes.«
»Ich bin kein guter Seemann. Ich stamme aus North Dakota, und da gibt es nicht viel Wasser. Ich habe noch nicht einmal schwimmen gelernt.« Ihr Lächeln war schwach, aber es war wieder da.
»Haben Sie und Mr. Foster lange zusammen gearbeitet?«
»Sergeant Foster«, korrigierte sie ihn automatisch. »Ja. Seit ich vor etwa einem Jahr nach Vicenza kam. Er macht eigentlich alles allein. Die brauchen nur einen Offizier, der die Verantwortung trägt. Und Papiere unterschreibt.«
»Dem man die Schuld geben kann?« fragte er mit einem Lächeln.
»Ja, ja, so könnte man vielleicht sagen. Aber es ist nie etwas schiefgegangen. Nicht bei Sergeant Foster. Er macht seine Arbeit sehr gut.« Ihre Stimme klang herzlich. Lob? Zuneigung?
Das Motorengeräusch unter ihnen wurde zu einem langsamen, gleichmäßigen Schnurren, und dann kam der schwere, dumpfe Schlag, als sie an die Anlegestelle des Friedhofs glitten. Er stand auf und stieg über die schmale Treppe aufs offene Deck, wo er stehenblieb, um die eine Hälfte der Schwingtür für die Ärztin aufzuhalten. Monetti war damit beschäftigt, die Leinen um einen der hölzernen Pfähle zu schlingen, die in absurdem Winkel aus dem Wasser der Lagune ragten.
Brunetti sprang an Land und hielt ihr seinen Arm hin. Sie legte die Hand darauf und war mit einem großen Schritt neben ihm. Er stellte fest, daß sie weder eine Handtasche noch eine Aktenmappe bei sich hatte. Vielleicht im Auto oder im Boot gelassen.
Der Friedhof wurde um vier Uhr geschlossen, so daß Brunetti auf die Klingel rechts von den großen Holztoren drücken mußte. Kurz darauf wurde das rechte Tor von einem Mann in dunkelblauer Uniform geöffnet, und Brunetti nannte seinen Namen. Der Mann hielt ihnen die Tür auf und schloß sie hinter ihnen. Brunetti ging durch die Haupteinfahrt voraus und blieb am Fenster des Wachmanns stehen, um seinen Namen zu nennen und seinen Dienstausweis vorzuzeigen. Der Wachmann bedeutete ihnen, rechts durch die offene Arkade weiterzugehen. Brunetti nickte. Er kannte den Weg.
Als sie das Gebäude betraten, in dem die Leichenhalle war, spürte Brunetti den plötzlichen Temperaturunterschied. Dr. Peters bemerkte ihn offensichtlich auch, denn sie kreuzte die Arme über der Brust und senkte den Kopf. An einem einfachen Holztisch am Ende des langen Korridors saß ein weißgekleideter Wärter. Er stand auf, als er sie kommen sah, und legte bedachtsam sein Buch vor sich hin, die aufgeklappten Seiten nach unten. »Commissario Brunetti?« fragte er.
»Das ist die Ärztin vom amerikanischen Stützpunkt«, erklärte Brunetti mit einer Kopfbewegung zu der jungen Frau an seiner Seite. Für jemanden, der dem Tod so oft ins Gesicht sah, war der Anblick einer jungen Frau in Militäruniform wohl kaum bemerkenswert, denn der Wärter ging rasch vor ihnen vorbei und öffnete die schwere Holztür zu seiner Linken.
»Ich wußte, daß Sie kommen, und habe ihn schon herausgeholt«, sagte der Mann, während er sie zu einer metallenen Bahre führte, die an einer Seitenwand stand. Alle drei erkannten, was unter dem weißen Tuch lag. Als sie neben der Leiche standen, sah der junge Mann Dr. Peters an. Sie nickte. Er schlug das Tuch zurück, und sie blickte in das Gesicht des Toten. Brunetti beobachtete ihr Gesicht. Die ersten paar Sekunden blieb es völlig ruhig und ausdruckslos, dann schloß sie die Augen und zog die Oberlippe zwischen die Zähne. Falls sie die Tränen zurückzuhalten versuchte, gelang es ihr nicht; sie stiegen hoch und quollen aus ihren
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