Brunetti 02 - Endstation Venedig
ihr gegenüber und sah, wie aufrecht und starr sie dasaß.
»Es sind noch etliche Formalitäten zu erledigen, aber ich nehme an, daß wir die Leiche morgen freigeben können.«
Sie nickte, um anzuzeigen, daß sie ihn gehört hatte.
»Was wird die Army tun?«
»Wie bitte?«
»Was tut die Army in so einem Fall?« wiederholte er.
»Wir schicken die Leiche nach Hause, zu seiner Familie.«
»Nein, das meine ich nicht. Ich meine die Untersuchung des Falles.«
Bei diesen Worten drehte sie sich um und sah ihm in die Augen. Er hielt ihre Verwirrung für gespielt. »Ich verstehe nicht. Was für eine Untersuchung?«
»Um herauszufinden, warum er umgebracht wurde.«
»Aber ich dachte, es war Raubmord«, sagte sie.
»Vielleicht«, meinte er. »Aber ich bezweifle es.«
Sie wandte den Kopf ab, als er das sagte, und starrte aus dem Fenster, doch die Nacht hatte das Panorama von Venedig verschluckt, und sie sah nur ihr eigenes Spiegelbild.
»Darüber weiß ich nichts«, sagte sie mit Nachdruck.
Für Brunetti klang es so, als glaubte sie, wenn sie es nur oft und eindringlich genug wiederholte, würde es wahr. »Was war er für ein Mensch?« fragte er.
Einen Augenblick antwortete sie nicht, aber als sie es dann tat, fand Brunetti ihre Antwort eigenartig. »Aufrichtig. Er war ein aufrichtiger Mensch.«
Es war eine merkwürdige Aussage über einen so jungen Mann. Er wartete, ob sie noch mehr sagen würde. Als sie es nicht tat, fragte er: »Wie gut haben Sie ihn gekannt?«
Er beobachtete ihr Gesicht nicht direkt, sondern dessen Spiegelbild in der Fensterscheibe des Bootes. Sie weinte nicht mehr, doch in ihren Zügen hatte sich eine tiefe Traurigkeit eingenistet. Sie holte tief Luft und antwortete: »Ich kannte ihn sehr gut.« Doch dann veränderte sich ihr Ton, wurde lässiger und beiläufiger. »Wir haben ein Jahr lang zusammen gearbeitet.« Und mehr sagte sie nicht.
»Worin bestand denn seine Arbeit? Captain Duncan sagte, er war Gesundheitsinspektor, aber ich habe eigentlich keine Ahnung, was das heißen soll.«
Sie sah, daß ihre Blicke sich im Fensterglas trafen, und drehte sich zu ihm um. »Er mußte unsere Wohnungen inspizieren. Die, in denen wir Amerikaner wohnen, meine ich. Oder wenn es irgendwelche Beschwerden von Vermietern über die Mieter gab, mußte er ihnen nachgehen.«
»Und sonst?«
»Er mußte zu den Botschaften fahren, für die unser Krankenhaus zuständig ist. Nach Kairo, Warschau und Belgrad, um die Küchen zu überprüfen, ob sie sauber sind.«
»Dann war er also viel auf Reisen?«
»Ziemlich viel, ja.«
»Hat er seine Arbeit gern gemacht?«
Ohne Zögern und mit großem Nachdruck sagte sie: »O ja. Er fand sie sehr wichtig.«
»Und Sie waren seine Vorgesetzte?«
Ihr Lächeln war kaum erkennbar. »So konnte man es wohl nennen. Ich bin eigentlich Kinderärztin; sie haben mir diese Stellung im Gesundheitswesen nur übertragen, um bei Bedarf über die Unterschrift eines Offiziers und eines Arztes zu verfügen. Er hat das Büro fast ganz allein geführt. Gelegentlich gab er mir etwas zu unterschreiben oder bat mich, irgendwelche Dinge zu bestellen. Vieles wird schneller erledigt, wenn ein Offizier es anfordert.«
»Sind Sie je zusammen zu den Botschaften gereist?«
Ob sie seine Frage seltsam fand, konnte er nicht erkennen, denn sie wandte sich ab und starrte wieder aus dem Fenster. »Nein, Sergeant Foster ist immer allein gefahren.« Unvermittelt stand sie auf und ging zur Treppe im hinteren Teil der Kabine. »Kennt Ihr Fahrer, oder wie man ihn nennt, eigentlich den Weg? Ich habe das Gefühl, wir brauchen eine Ewigkeit für die Rückfahrt.« Sie drückte eine Hälfte der Schwingtür auf und blickte aufmerksam hinaus, aber die Gebaude zu beiden Seiten des Kanals sagten ihr nichts.
»Ja, zurück dauert es länger«, log Brunetti ohne schlechtes Gewissen. »Viele Kanäle dürfen nur in einer Richtung befahren werden, so daß wir ganz um den Bahnhof herum müssen, um zum Piazzale Roma zu kommen.« Er sah, daß sie gerade in den Canale di Cannareggio einfuhren. In knapp fünf Minuten würden sie da sein.
Sie drängte sich durch die Schwingtür nach draußen und stellte sich aufs Deck. Ein plötzlicher Windstoß zerrte an ihrer Mütze, und sie drückte sie mit der einen Hand auf den Kopf, nahm sie dann ab und hielt sie in der Hand. Ohne die steife Kopfbedeckung war sie mehr als hübsch.
Er ging hinauf und trat neben sie. Sie bogen gerade nach rechts in den Canal Grande ein. »Es ist sehr schon
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