Brunetti 02 - Endstation Venedig
Schönheit. Wenn er darüber nachdachte, kam er zu dem Schluß, daß es etwas mit dem Dialekt zu tun haben mußte, den man hier sprach, mit der Tatsache, daß nicht einmal achtzigtausend Menschen in dieser Stadt lebten, und vielleicht damit, daß er in einem Palazzo aus dem fünfzehnten Jahrhundert in den Kindergarten gegangen war. Wenn er woanders war, fehlte die Stadt ihm auf dieselbe Weise, wie ihm Paola fehlte, und er fühlte sich nur vollständig und ganz, wenn er hier war. Während sie den Kanal hinaufbrausten, genügte ein Blick in die Runde, um den tieferen Sinn all dessen zu beweisen. Er hatte nie mit jemandem darüber gesprochen. Kein Fremder würde es verstehen; und jeder Venezianer würde es überflüssig finden.
Kurz nachdem sie unter der Rialtobrücke durchgefahren waren, lenkte Monetti das Boot nach rechts. Am Ende der langen Galle, die zu Brunettis Haus führte, schaltete er in den Leerlauf und hielt das Boot kurz am Ufer an, um Brunetti an Land springen zu lassen. Noch bevor Brunetti sich umdrehen und dankend die Hand heben konnte, war Monetti schon wieder davon und schwenkte das Boot mit blinkendem Blaulicht in die Richtung, aus der sie gekommen waren, auf dem Weg nach Hause zum Essen.
Brunetti ging mit müden Beinen die Calle entlang; er hatte das Gefühl, den ganzen Tag von einem Boot aufs andere gesprungen zu sein, seit ihn vor zwölf Stunden das erste hier abgeholt hatte. Er öffnete die große Tür des Hauses und schloß sie leise hinter sich. Das schmale Treppenhaus, das sich in Haarnadelkurven bis oben wand, wirkte wie ein perfekter Schalltrichter, und man hörte noch vier Treppen höher, wenn die Haustür zufiel. Vier Treppen. Der Gedanke machte ihm zu schaffen.
Als er die letzte Biegung des Treppenhauses erreicht hatte, roch er die Zwiebeln, was ihm das Erklimmen der restlichen Stufen sehr erleichterte. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr, bevor er den Schlüssel ins Schloß steckte. Halb zehn. Chiara würde noch wach sein, so daß er ihr wenigstens einen Gutenachtkuß geben und sie fragen konnte, ob sie ihre Hausaufgaben gemacht hatte. Bei Raffaele, falls er da war, konnte er ersteres kaum riskieren, und letzteres wäre sinnlos.
»Ciao, papà «, rief Chiara aus dem Wohnzimmer. Er hängte sein Jackett in den Schrank und durchquerte den Flur. Chiara lümmelte in einem Sessel und blickte von einem Buch hoch, das aufgeschlagen auf ihrem Schoß lag.
Beim Eintreten knipste er automatisch den Strahler über ihr an. »Willst du blind werden?« fragte er zum siebenhundertsten Mal.
»Ach, papà, ich sehe genug zum Lesen.«
Er beugte sich über sie und küßte sie auf die Wange, die sie ihm hinhielt. »Was liest du denn da, mein Engel?«
»Mamma hat es mir gegeben. Es ist fabelhaft. Es handelt von einer Gouvernante, die bei einem Mann arbeitet, und dann verlieben sie sich, aber er hat diese verrückte Frau, die auf dem Dachboden eingesperrt ist, und kann sie nicht heiraten, obwohl sie sich echt lieben. Ich bin gerade an der Stelle, als ein Feuer ausbricht. Ich hoffe, sie verbrennt.«
»Wer, Chiara?« fragte er. »Die Gouvernante oder die Ehefrau?«
»Die Ehefrau natürlich, Dummerjan.«
»Warum?«
»Damit Jane Eyre«, sagte sie, wobei aus dem Namen Haschee wurde, »endlich Mr. Rochester heiraten kann«, dessen Namen sie ebenso Gewalt antat.
Er wollte weiter fragen, aber sie war schon wieder bei ihrem Feuer, also ging er in die Küche, wo er Paola über die offene Tür der Waschmaschine gebeugt fand.
»Ciao, Guido«, sagte sie und richtete sich auf. »In zehn Minuten können wir essen.« Sie küßte ihn, bevor sie sich dem Herd zuwandte, auf dem Zwiebeln in Öl vor sich hin brutzelten.
»Ich hatte eben eine literarische Diskussion mit unserer Tochter«, sagte er. »Sie hat mir die Handlung eines großen Klassikers der englischen Literatur erklärt. Ich glaube, es ist besser, wenn wir sie zwingen, die brasilianischen Seifenopern im Fernsehen anzusehen. Sie will doch unbedingt, daß Mrs. Rochester verbrennt.«
»Ach, komm, Guido, das will jeder unbedingt, wenn er Jane Eyre liest.« Sie schob die Zwiebeln in der Pfanne hin und her und fügte hinzu: »Jedenfalls beim erstenmal. Was für ein gerissenes, selbstgerechtes Biest diese Jane Eyre wirklich ist, merkt man erst später.«
»Erzählst du das deinen Studenten?« fragte er, während er den Schrank aufmachte und eine Flasche Pinot Noir herausholte.
Die Leber wartete fertig geschnitten auf einem Teller neben der Pfanne. Paola
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