Brunetti 02 - Endstation Venedig
das Tablett auf Ambrogianis Schreibtisch ab und ging wieder.
»Es ist immer noch sommerlich heiß«, sagte Ambrogiani. »Man soll viel Wasser trinken.«
Er beugte sich vor und reichte Brunetti eine Tasse, dann nahm er sich die andere. Als sie den Kaffee getrunken hatten und jeder mit einem Glas Wasser in der Hand dasaß, hielt Brunetti die Zeit für gekommen, mit dem eigentlichen Gespräch zu beginnen. »Ist irgend etwas bekannt über diesen Amerikaner, Sergeant Foster?«
Ambrogiani tippte mit dickem Finger auf einen dünnen Ordner, der am Rande seines Schreibtischs lag, offenbar die Akte über den toten Amerikaner. »Gar nichts. Jedenfalls nicht bei uns. Natürlich geben die Amerikaner uns nicht die Akten, die sie über ihn haben. Das heißt«, ergänzte er rasch, »wenn sie eine über ihn haben.«
»Warum nicht?«
»Das ist eine lange Geschichte«, sagte Ambrogiani und machte durch sein leichtes Zögern deutlich, daß er gebeten werden wollte.
Wie immer gewillt, dem nachzukommen, fragte Brunetti: »Warum?«
Ambrogiani rutschte auf seinem Stuhl herum, der eindeutig zu schmal für seinen großen Körper war. Er tippte auf den Ordner, trank einen Schluck Wasser, setzte sein Glas ab, tippte wieder auf den Ordner. »Wissen Sie, die Amerikaner sind seit Kriegsende hier. Sie haben diesen Stützpunkt, und er ist ständig gewachsen und wächst weiter. Zu Tausenden sind sie hier, mit ihren Familien.« Brunetti überlegte, worauf diese lange Einleitung wohl hinauslaufen würde. »Und weil sie schon so lange hier sind, vielleicht auch, weil sie so viele sind, neigen sie dazu - also, sie neigen dazu, diesen Stützpunkt als ihren Besitz anzusehen, auch wenn er laut Vertrag immer noch italienisches Territorium ist. Noch. Ein Teil Italiens.« Er rutschte wieder herum.
»Gibt es Schwierigkeiten?« wollte Brunetti wissen. »Mit ihnen?«
Nach einer langen Pause antwortete Ambrogiani: »Nein. Nicht direkt. Sie wissen ja, wie Amerikaner sind.«
Brunetti hatte das schon oft gehört, über Deutsche, Slawen, Briten. Jeder nahm an, daß andere immer irgendwie waren, obwohl nie jemand zu wissen schien, was dieses »irgendwie« eigentlich war. Er hob fragend das Kinn, um den Maggiore zum Weiterreden anzuregen.
»Es ist keine Arroganz, nicht direkt. Ich glaube, für echte Arroganz haben sie nicht das nötige Selbstbewußtsein, wie beispielsweise die Deutschen. Es ist mehr so etwas wie Besitzdenken, als wäre das Ganze hier, ganz Italien ihr Eigentum. Als glaubten sie, indem sie es schützen, sei es ihres.«
»Schützen sie es wirklich?« fragte Brunetti.
Ambrogiani lachte. »Wahrscheinlich haben sie das getan, nach dem Krieg. Aber ich bin nicht sicher, ob es auf ein paar Tausend Fallschirmjäger in Norditalien noch ankommt, so wie die Welt sich entwickelt hat.«
»Sind diese Ansichten verbreitet?« fragte Brunetti. »Ich meine, beim Militär, bei den Carabinieri?«
»Ja. Ich glaube schon. Aber Sie müssen auch verstehen, wie die Amerikaner die Dinge sehen.«
Für Brunetti war es eine Offenbarung, den Mann so reden zu hören. In einem Land, in dem die meisten öffentlichen Institutionen keinen Respekt mehr verdienten, hatten nur die Carabinieri sich heraushalten können und galten noch immer als immun gegen Korruption. Sobald das feststand, hatte die öffentliche Meinung nichts Besseres zu tun, als es ins Lächerliche zu ziehen und ebendiese Carabinieri zum Volksgespött zu machen, die klassischen Hanswurste, die nie etwas verstanden und deren sprichwörtliche Dummheit die ganze Nation ergötzte. Und doch saß hier einer, der versuchte, die Sichtweise anderer Menschen zu erklären. Und der sie anscheinend verstand. Bemerkenswert.
»Was haben wir denn für ein Militär hier in Italien?« fragte Ambrogiani. Eine eindeutig rhetorische Frage. »Wir bei den Carabinieri sind alle Freiwillige. Aber bei der Armee - die sind alle eingezogen, bis auf die wenigen, die es als Beruf gewählt haben. Es sind Kinder, achtzehn-, neunzehnjährig, und sie wollen ebensowenig Soldaten sein wie...« Er hielt inne und suchte nach einem passenden Vergleich. »So wenig wie abwaschen und selbst ihre Betten machen, was sie beim Militär tun müssen, wahrscheinlich zum erstenmal in ihrem Leben. Das sind anderthalb verlorene, weggeworfene Jahre, in denen sie arbeiten oder studieren könnten. Sie durchlaufen eine brutale, stupide Ausbildung und verbringen ein brutales, stupides Jahr in schäbigen Uniformen, wobei sie nicht einmal genügend Geld bekommen,
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